Sie ist 15 Meter lang, wiegt 36 Tonnen, besitzt drei Stufen und kann bis zu 5'500 Kilometer weit fliegen. Und vor allem: Sie kann mehrere atomare Sprengsätze befördern. Im Westen soll sie jetzt Angst verbreiten.
Russland nennt die Rakete RS-26 «Rubesch» (Haselstrauch). Im Westen wurde sie SS-x-31 getauft. Es ist das erste Mal, dass Putin eine ballistische Rakete mit Mehrfachsprengköpfen in den Westen abschoss. Dies bestätigt Hans Kristensen, Leiter des «Nuclear Information Project» bei der «Federation of American Scientists».
Raketen, die über 5'500 Kilometer weit fliegen, gelten als Interkontentalraketen (Langstreckenraketen). Fliegen sie weniger weit, gehören sie in die Kategorie Mittelstreckenraketen und fallen unter den INF-Vertrag. Je mehr Sprengköpfe ein Rakete trägt, desto weniger weit fliegt sie.
Ob es sich bei der RS-26-Rakete um einen Interkontinental- oder eine Mittelstreckenraketen handelt – darüber diskutieren westliche Raketenspezialisten noch.
Mehrere Ziele gleichzeitig angreifen
Wichtig ist: Die RS-26 kann Mehrfachsprengköpfe befördern, sogenannte MIRVs («Multiple independently targetable reentry vehicle»). Raketen mit MIRVs ermöglichen es, mit einer einzigen Trägerrakete mehrere Ziele gleichzeitig anzugreifen. Sie fliegt dann über ein Zielgebiet. Von dort aus schiesst sie mehrere kleinere Raketen mit atomaren Sprengköpfen in verschiedene, vorher programmierte Richtungen ab.
Als in den Siebzigerjahren bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen bekannt wurde, dass die USA die MIRV-Technik entwickelt haben, herrschte auf sowjetischer Seite zunächst einmal Panik. Später gelang es auch der Sowjetunion, solche Waffengattungen zu entwickeln. Sie Sowjets drohten damals mehrmals, sie könnten mit einer einzigen, mit Mehrfach-Sprengköpfen bestückten ballistischen Rakete mehrere Städte an der amerikanischen Ostküste gleichzeitig «auslöschen». Seither ist die Bezeichnung MIRV zu einem Schreckgespenst geworden. Putin weiss das.
Für Luftabwehrsysteme sind Raketen mit MIRV-Sprengköpfen eine riesige Herausforderung. Sie müssen gleichzeitig mehrere, auf verschiedene Ziele abgeschossene Sprengköpfe abfangen.
Riesige Zerstörungskapazität
Das stärkste von den USA entwickelte MIRV-System kann mit zu zehn Sprengköpfen mit je einer Sprengladung von bis zu 300 KT Äquivalent tragen. Die russische SS-18-Rakete (im Westen «Satan» genannt) kann bis zu zehn Sprengköpfen mit je 550 KT befördern. Wie viele Sprengköpfe eine RS-26 tragen kann, ist unklar.
Mit MIRV bestückte Raketen können vom Land aus (z.B. von Bunkern), von mobilen Abschussrampen, von U-Booten oder von Kampfflugzeugen abgeschossen werden. Die am Donnerstag abgefeuerte Rakete wurde offenbar von einer mobilen Abschussbasis in der russischen Region Astrachan am Kaspischen Meer auf Dnipro in der Zentralukraine abgefeuert. Sie schoss vermutlich sechs, in verschiedene Richtungen fliegende Sprengköpfe ab. Jede diese nicht-atomaren Sprengladungen steuerte ein programmiertes Ziel an.
Putin nannte die Rakete nicht «Rubesch», sondern «Oreschnik». Damit will er betonen, dass es sich um eine völlig neue ballistische Hyperschall-Rakete handelt. Doch daran gibt es Zweifel. Putin behauptete auch, westliche Raketenabwehrsysteme hätten keine Chance, diese Rakete abzufangen. Dem widerspricht das Pentagon.
Aufgepepptes Auslaufmodell
Die RS-26 war kein Erfolgsmodell; ihre Entwicklung wurde inzwischen eingestellt. Es handelt sich eindeutig nicht um eine spektakuläre Neuentwicklung wie sie der Kreml darstellt, sondern um ein aufgepepptes Auslaufmodell. Alter Wein in neuen Schläuchen. Das amerikanische Verteidigungsministerium hat denn auch gelassen auf den russischen Abschuss reagiert. Nach amerikanischen Angaben verfügt Russland offenbar nur noch über ganz wenige dieser Raketen.
Und dennoch: Der Einsatz einer RS-26-Rakete bedeutet einen potenziell gefährlichen Moment und eine weitere Eskalation nicht nur im Ukraine-Krieg, sondern auch in den amerikanisch-russischen Beziehungen.
Auch wenn die russische Rakete, die am Donnerstag abgefeuert wurde, «nur» konventionelle, also keine atomaren
Sprengsätze trug, verfügen MIRV-Raketen über eine riesige Zerstörungskapazität. In Dnipro waren die Schäden allerdings bescheiden. Angegriffen wurde das ukrainische Raketen- und Satelliten-Unternehmen «Juschmasch». Der Rüstungskonzern stammt aus sowjetischen Zeiten. Zwei Menschen wurden verletzt, eine Industrieanlage sowie ein Rehazentrum für Menschen mit Behinderungen wurde beschädigt.
Die Rakete, die Putin jetzt auf Dnipro abschiessen liess, war eine Antwort auf die amerikanische ATACMS-Rakete und die britische «Storm Shadow»-Rakete, die zuvor Ziele in Russland angriffen. Präsident Joe Biden hatte es zuvor der Ukraine erlaubt, amerikanische Langstreckenraketen auf Russland abzufeuern.
Die USA wurden vorab informiert
Russland «wird den Start von Langstreckenraketen, die von US-Militärexperten gesteuert werden, als eine qualitativ neue Phase des Krieges durch den Westen wahrnehmen», kommentierte der russische Aussenminister Sergej Lawrow.
Und Putin sagte: «Wir sehen uns im Recht, unsere Waffen gegen militärische Objekte der Länder einzusetzen, die es zulassen, dass ihre Waffen gegen Objekte bei uns eingesetzt werden.»
Putin hat nach Angaben der Vize-Sprecherin des amerikanischen Verteidigungsministeriums, die USA vor dem Abschuss der Rakete informiert. Immerhin. Ein solches Szenario hatten die Abrüstungsdelegationen in ihren jahrzehntelangen Verhandlungen in Genf und New York ausgearbeitet.
Den Westen einschüchtern
Der Abschuss der russischen SS-26-Rakete auf Dnipro hatte in erste Linie nicht das Ziel, Schäden zu verursachen. Hauptziel ist es, den Westen einzuschüchtern. Und das gelingt. Verstärkt wurde die Einschüchterung dadurch, dass Russland ankündigte, seine Nukleardoktrin zu aktualisieren. Eine Aggression eines Nicht-Nuklear-Staates (also z.B. die Ukraine) mit Billigung oder Unterstützung eines Nuklearstaates (also z.B. die USA) werde als gemeinsamer Angriff auf Russland betrachtet.
Bei den jahrzehntelangen Abrüstungsverhandlungen beschwor man immer wieder das «Gleichgewicht des Schreckens». Da beide Supermächte über ein riesiges Zerstörungspotential verfügen, ging man davon aus, dass keine von ihnen die andere mit einem Erstschlag angreifen würde, da sie sonst mit der eigenen Vernichtung rechnen müsse. In den grossen amerikanischen Medien wird jetzt die Frage gestellt, ob sich Putin weiterhin an diese Doktrin halten werde. Wird er nicht – wenn er nicht zu seinen Zielen kommt – als erster Atomwaffen gegen den Westen einsetzen? Ist er bereit, auch einen Erstschlag durchzuführen? Fürchtet er sich nicht mehr vor einem atomaren Gegenschlag? Hält er von der einst postulierten gegenseitigen Abschreckung nichts mehr? «Ist die Abschreckung gerade gestorben?» fragt CNN.
Dass diese Fragen jetzt in westlichen Kreisen diskutiert werden, stärkt Putins Position, da sie dazu da sind, zusätzlich Angst zu verbreiten. Doch das Pentagon beschwichtigt: Ein Nuklearschlag steht nicht bevor.
Sich gegenüber Trump in Stellung bringen
Da und dort wächst in westlichen Ländern die Bereitschaft, Russland entgegenzukommen und die einst harte Haltung gegenüber dem Kreml aufzuweichen. Bundeskanzler Olaf Scholz telefonierte mit Putin und verzichtet auf die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern, was ihm ein faustdickes Kompliment des Kreml eintrug. Und Präsident Emmanuel Macron schüttelte in Rio Russlands Aussenminister Lawrow fast schon herzlich die Hand.
Der Krieg in der Ukraine scheint in ein entscheidendes Stadium zu treten. Folgen im nächsten Jahr Waffenstillstandsverhandlungen? Friedensverhandlungen? Putin will offenbar im Westen Angst säen, um sich in eine starke Verhandlungsposition hineinzumanövrieren – und sich gegenüber Donald Trump in Stellung zu bringen.