Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat geurteilt, Israel habe «absichtlich und wissentlich der Zivilbevölkerung im Gazastreifen wesentliche Dinge für ihr Überleben einschliesslich Nahrung, Wasser sowie Medikamente und medizinische Hilfsmittel sowie Brennstoffe und Strom vorenthalten» und damit mutmasslich Kriegsverbrechen begangen. Verantwortlich dafür erklärte das Gericht Israels Premier, Benjamin Netanjahu, sowie den früheren Verteidigungsminister, Yoav Gallant.
Das Gericht bezog sich bei seiner Beurteilung auf den Zeitraum zwischen dem 8. Oktober 2023 (dem Tag nach dem von Hamas verübten Massenmord-Massaker in Israel mit mehr als 1200 Toten und über 240 als Geiseln Verschleppten) und Mai 2024. In der Zwischenzeit hat sich die Lage der Bevölkerung im Gazastreifen drastisch weiter verschlimmert: über 44’000 Todesopfer, mindestens 90’000 Verletzte und hunderttausende, die von Hunger oder gar vom Hungertod bedroht sind. Die von Israel erlaubten Camion-Lieferungen in den Gazastreifen sind auf Tiefpunkte gesunken: Waren es vor dem Krieg noch ca. 500 Lastwagen, so kamen in den letzten zwei Monaten täglich nur noch zwischen 30 und 40 durch.
Dass Israel das Urteil, das zur Verhaftung der beiden Männer führen soll, vehement zurückweisen würde, war voraussehbar. Es sei «antisemitisch», erklärten Netanjahu und mehrere Mitglieder seiner Regierung. Eindeutig war auch die Reaktion aus Washington: Noch-Präsident Joe Biden nannte es «empörend». Schon vergessen schien jetzt, dass Biden selbst noch wenige Wochen vorher die Regierung Netanjahus schein-ultimativ angemahnt hatte, die Versorgung der 2,2 Millionen Menschen im Gazastreifen erkennbar zu verbessern, andernfalls würde Onkel Sam die Lieferung von Waffen und Munition an Israel «überdenken». Das «Überdenken» endete dann allerdings in der entschuldigenden Erklärung, es gäbe keine Hinweise, dass Israel US-amerikanische Gesetze (beim Krieg im Gazastreifen) verletze. Worauf die Lieferungen vollumfänglich weiter gingen.
Europäische Regierungen aber stürzte das Urteil des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den israelischen Premier Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Gallant ins Dilemma: Sollen sie, wenn Netanjahu oder Gallant ihr Land besuchen würde, dem Verdikt des ICC Folge leisten und den oder die Besucher verhaften und nach Den Haag ausliefern – oder können sie das Verdikt ignorieren? So theoretisch die Frage aktuell scheint, so brennend ist sie dennoch für mehrere Regierungen.
Deutschland in der Bredoullie
Der Sprecher der deutschen Bundesregierung, Steffen Hebestreit, brachte das Dilemma in gewundenen Worten zum Ausdruck: «Da ist einerseits die Bedeutung des internationalen Strafgerichtshofs, den wir sehr unterstützen, und anderseits die geschichtliche Verantwortung. Ich könnte mich dazu hinreissen lassen, zu sagen, dass es mir schwerfällt, mir vorzustellen, dass wir auf dieser Grundlage Verhaftungen in Deutschland vornehmen.» Aussenministerin Baerbock drückte sich nicht klarer aus: «Wir halten uns national, europäisch und international an Recht und Gesetz. Deswegen prüfen wir jetzt genau, was das für uns in der internationalen Umsetzung bedeutet.»
Deutschland steckt tatsächlich in der Bredoullie. Schon Angela Merkel sagte, es sei für ihr Land «Staatsräson», Solidarität mit Israel zu bekunden – dem entsprechend wurde Deutschland zum zweitwichtigsten Waffenlieferanten (nach den USA) für Israel, und Aussenministerin Baerbock betont fast schon täglich das Recht Israels auf Selbstverteidigung. Sie bringt ihre «tiefe Betroffenheit» über das Leiden der Gaza-Bevölkerung zum Ausdruck, ermahnt Israel auch, mehr Hilfe in den zerbombten Küstenstreifen durchzulassen, aber dann kehrt sie zurück zur gebetsmühlenartig wiederholten Formel, dass ihr Land felsenfest an der Seite Israels stehe. Ob die israelische Kriegführung im Gazastreifen jetzt, dreizehn Monate nach dem von Hamas verübten Massenmord an Frauen und Männern in Israel, noch viel mit Selbstverteidigung zu tun hat, bleibt dann offen.
Spanien, Irland, Norwegen, die Niederlande – ihre Regierungen haben sich klar positioniert: Sie würden Netanjahu und Gallant im Falle eines Falls festnehmen und an den Gerichtshof ausliefern. Bei Italien ist die Sachlage schon weniger klar: Ministerpräsidentin Meloni scheint Ja zu sagen, ihr Aussenminister und Vize, Antonio Tajani, sagt Nein. Ungarns Premier, Viktor Orban, ist eindeutig auf der Nein-Seite und damit solidarisch mit Netanjahu: demonstrativ hat er den israelischen Premier zu einem Besuch nach Budapest eingeladen.
Rechtfertigungs-Paragraf
Wie kann er das? Ungarn ist eines jener 124 Länder, die dem Römer Statut beigetreten sind, das die Grundlage der Entscheide des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag bildet und hat den Beitritt auch ratifiziert. Also: Wie kann Orban die beiden Verpflichtungen, jene gegenüber der Autorität des Gerichts und jene seiner Aussenpolitik zugunsten Israels, unter einen Hut bringen?
Kann er! Er muss sich nur auf Artikel 98 des Römer Statuts berufen (einen Paragrafen, den wohl nur professionelle Juristen verstehen), der besagt: Gegen keinen Amtsträger eines Nicht-Mitglieds wie Israel kann der ICC Urteile erlassen, die im Widerspruch stehen zu anderen internationalen «Verpflichtungen» des betreffenden Landes. Auf diesen Artikel berief sich einmal Jordanien, als es den sudanesischen Diktator Omar al-Bashir empfing (gegen den der Strafgerichtshof ein Arrest-Urteil erlassen hatte), und darauf berief sich, im laufenden Jahr, auch die Mongolei, als sie den russischen Präsidenten Wladimir Putin empfing.
Mit anderen Worten: Es gibt für Staaten, die sich für den Fall des Falls herausreden wollen, einen Rechtfertigungs-Paragrafen – mich würde erstaunen, wenn die Schweiz sich nicht darauf berufen würde, wollte Benjanim Netanjahu, beispielsweise, ans WEF in Davos reisen. Das EDA von Bundesrat Ignazio Cassis hat bisher lediglich erklärt, man habe den Haftbefehl zur Kenntnis genommen und man respektiere die Unabhängigkeit des Gerichtshofs.
Mehr soll zum jetzigen Zeitpunkt, Berner Gepflogenheiten entsprechend, wohl auch nicht gesagt werden. «Nur auf keiner Seite stehen, auch nicht auf der richtigen», lautet ja, niemals laut ausgesprochen, eine Grundhaltung der Schweiz. Anderswo in Europa sieht man jedoch mehr Entscheidungsdrang: Das Thema wird, einem Antrag der italienischen Ministerpräsidentin Meloni entsprechend, auf die Tagesordnung des G-7-Gipfels in der kommenden Woche gesetzt.