Die Reaktion scheint mir symptomatisch für einen neuen Wissenstypus zu sein: das Wissen-wo (Know-Where).
Die Vorherrschaft der „Query“
Das Netz ist ein riesiges wachsendes externes Gedächtnis, das mich von unnötiger Memorierarbeit entlastet. Die Suchmaschinen tun es für mich: „Query“ heisst das heute, charakteristisch für den Wissens-Abfrager. Er ist eigentlich ein Meta-Wisser: Er eignet sich nicht Wissen über eine Sache an, er weiss, wo er gegebenenfalls das Wissen finden kann, und empfindet sich als wissend, nur schon weil er ja im Besitz eines „wissenden“ Geräts ist.
So neu ist das wiederum nicht. Wissen erweist sich zu einem wesentlichen Teil als kollektiv und transaktiv. Das heisst, was wir wissen, erfahren wir über einen sozialen Austausch: Wir lernen es in der Schule, an der Universität, wir erfahren es von anderen Menschen im Gespräch, in der Arbeit, wir erweitern und verfeinern es in der Diskussion, wir lesen es in diversen Medien, wir schreiben es selber ein in diese Medien. Unser Wissen speist sich also grossenteils aus „transaktiven“ Quellen, wird von einem Gruppengeist getragen. Der bekannte 2013 verstorbene Harvard-Psychologe Daniel M. Wegner demonstrierte anhand von Experimenten, wie sich zwischen Menschen ein sogenanntes „transaktives Gedächtnissystem“ formiert, das insbesondere eine Wissensauslagerung und -aufteilung erlaubt. Unser Gedächtnis ist nur begrenzt in der Lage, Informationen zu speichern, deshalb delegieren wir diese Speicherung an andere Leute. Ich weiss nicht, wie man die Steuererklärung optimal ausfüllt, aber ich kenne einen Steuerberater, der das weiss; ich weiss nicht, wie eine abgestürzte Festplatte zu retten ist, aber ich habe einen Bekannten, der das weiss; ich weiss nicht, was der Plural von „non sequitur“ ist, aber ein alter Kollege und Lateinlehrer weiss das.
Der Google-Effekt
Nun beginnt das Internet zunehmend, den Part all dieser am transaktiven Gedächtnis Beteiligten zu übernehmen. Statt Menschen aus meinem Umkreis zu kontaktieren, lasse ich die Suchmaschine laufen. Google zu benutzen erweckt den Eindruck, dass das Internet Teil der eigenen kognitiven Ausstattung geworden ist. Ein Suchergebnis bei Google erscheint einem dann nicht als etwas von einer Website Geholtes, sondern als etwas aus dem eigenen Gedächtnis Gekramtes. Der Benutzer von Google rechnet sich als Verdienst an, was eigentlich Resultat eines Suchalgorithmus ist. Google und Gehirn verschmelzen zu einem Hybrid aus Kybernetik und Organismus, einem Cyborg. Wegner und sein Mitarbeiter Adrian F. Ward schrieben 2013 im Scientific American: „Wenn wir das iPhone in unsere Transaktionen einbeziehen, ändert sich alles (..) Wir behandeln das Internet wie andere Partner im transaktiven Gedächtnissystem. Aber das Internet (..) weiss mehr und es kann viel schneller Informationen produzieren. Fast alles Wissen ist heute über eine rasche Abfrage verfügbar. Das Internet kann nicht nur den Platz von Menschen als externen Speichern einnehmen, es kann auch kognitive Aufgaben übernehmen. Es kann dadurch unser Bedürfnis nach Wissenspartnern unterdrücken, mehr noch: es kann den Impuls verkümmern lassen, (..) dass wir gewisse wichtige, gerade gelernte Informationen in unser biologisches Speichermodul einschreiben. Wir nennen das den ‚Google-Effekt’.“
Die Illusion des Wissens
Die psychologischen Auswirkungen dieser Aufspaltung unseres Gedächtnisses zwischen Internet und grauer Hirnmasse sind alles andere als klar, und dementsprechend kontrovers werden sie unter Fachleuten diskutiert. Soll man jetzt sagen, der Mensch täusche sich selbst mit seinen neuen Gedächtnishilfen? Er erliege der Illusion, etwas zu wissen? Diese „Illusion“ entsteht ja nicht erst mit dem Internet, sondern geht mit allen externen Speichermedien – inklusive anderen Menschen - einher. Eine Rollkartei kann in mir die „Illusion“ erzeugen, ich wüsste Bescheid über die Adressen all meiner Bekannten; ebenso ein Chemielexikon, das ich jederzeit bei einer Frage über die Struktur eines Stoffes konsultieren kann. Ich habe Rollkartei bzw. Chemielexikon quasi „einverleibt“. Das Internet und seine handlichen kleinen Portale erweitern einfach die Möglichkeit solchen „Einverleibens“ ins Unübersehbare. Vor diesem Medium gab es keine vergleichbaren externen Datenbanken. Die Menschen verliessen sich auf weniger direkt zugängliche Wissensspeicher wie Bücher, oder auf andere Menschen in einem transaktiven Gedächtnissystem. Das Internet ist im Kontrast dazu wie eine allwissende, allgegenwärtige, allzeit dienstbare Person.
Wissens-Illusion oder Erweiterung des Wissens-Konzepts?
Hänge ich also einer „altmodischen“ Konzeption von Wissen an, wenn ich von Wissens-„Illusion“ rede? Auf jeden Fall ist der Google-Effekt ein schönes Beispiel dafür, wie Menschen und Maschinen immer Symbiosen mit unvorhersehbarem Ausgang eingehen. Jedes Medium prägt unsere Vorstellung von Wissen. Umso dringlicher erscheint heute eine kritische Wissensökologie, also das Gewichten und Vergleichen von herkömmlichen und neuen Wissenstypen. Genau hier sollte man den Google-Effekt ernst nehmen. Nicht als Lamento über mögliche Verfallsphänomene kognitiver Fähigkeiten.
Dieses Ernstnehmen beginnt bei einer Trivialität, die heute keine mehr ist. Ich möchte hier eine Analogie aus der Atomphysik heranziehen. Ein Atom kann in vielen Energiezuständen existieren. Der Grundzustand ist der Zustand niedrigster Energie. Analog dazu können wir im Umgang mit Medien jeglicher Art in Zuständen unterschiedlicher Anregung existieren. Der Grundzustand ist der unreflektierte Gebrauch: ich lese, ich simse, ich google, ich twittere. Der erste angeregte Zustand wäre: Ich weiss, dass ich google etc. Dieses Meta-Wissen versetzt mich nicht nur in einen reflektierteren (angeregteren) Zustand, sondern macht mich auch bereit für höhere Anregungsniveaus, in denen ich die verschiedenen Medien miteinander verknüpfe, zum Beispiel das Googeln für eine erste Kenntnisnahme eines Gebiets verwende, und anschliessend anhand einzelner Suchergebnisse diese Kenntnis vertiefe. Ich kann also durchaus nach „Saldo“ googeln, um mich dann vielleicht anhand eines Einführungstextes näher über die Finanzpraxis zu informieren. In diesem Sinne „bilde“ ich mich durch den Gebrauch unterschiedlicher Medien zunehmend zu einem echten Wissenden, der Informationen nicht bloss abfragt, sondern Informationen für ein nicht endendes Frage-und-Antwort-Spiel verwendet. Allerdings bin ich der Überzeugung, dass das wichtigste Medium in diesem Prozess nach wie vor die menschliche Person – also in unserem Beispiel die Lehrerin - ist.
Wisser und Kenner
Ein fundamentaler Unterschied bleibt: Etwas über eine Sache wissen heisst nicht die Sache kennen. Ich kann viel über eine geografische Region wissen ohne sie zu kennen; ich kann viel über Herzchirurgie wissen, ohne sie ausüben zu können; ich kann viel über die Weine des Pouilly Fumé wissen ohne sie gekostet zu haben. Wie man so sagt: Die Karte ist nicht das Gelände. Und das Wissensgelände ist die Welt in ihrem unausschöpflichen Detail- und Aspektreichtum. Keine Karte, weder eine analoge noch eine digitale, wird ihm gerecht. Entscheidend ist: Der Kenner zeichnet sich dadurch aus, dass er das Gelände – einen Teil davon – intus hat (inklusive Wein); dass sich seine Erfahrungen im „biologischen Speichermodul“, in ihm selber setzen: in seinen Beinen, in seinen Händen, in seinem Gaumen. Wissen ist auch sedimentiertes Leben. Und als solches ist es Bestandteil unserer Personalität. Wer glaubt, auf solches Wissen dank der neuen Speichermedien verzichten zu können, wiegt sich tatsächlich in einer Illusion. Es ist die Illusion, ein richtiges Leben im falschen zu führen.