„Sevilla 1982“ heisst ein 140 Seiten starker Essay, den der ehemalige Journalist und Autor, Pierre Louis Basse, heute Berater von Präsident Hollande, vor der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland herausgebracht hatte. 140 Seiten über das WM-Halbfinale Frankreich gegen Deutschland 1982 in Sevilla, ein Monument der Fussballgeschichte. Ein Spiel, das nicht nur alle Ingredienzien einer griechischen Tragödie zu bieten hatte, sondern, aus Sicht des Autors zumindest, auch zwei ideologische Welten, zwei Konzeptionen des Lebens aufeinander prallen liess. Der Essay ist ein Versuch, die deutsch-französischen Beziehungen, Unterschiede, Gemeinsamkeiten und unumstössliche Klischees durch das Brennglas dieses Fussballspiels zu analysieren.
Der 8. Juli 1982, so Pierre Louis Basse, ist für mindestens zwei Generationen von Franzosen ein Datum wie der 11. September 2001 für alle Bürger, zumindest der westlichen Welt: Jeder erinnert sich heute noch, was er an diesem Tag gemacht, wo und mit wem er den Abend verbracht – und wie er die Niederlage verkraftet hat. Die Niederlage dieser einmaligen Mannschaft mit einem Michel Platini, den die Schriftstellerin Marguerite Duras hinterher den Blauen Engel nennen sollte.
Deutsch-französische Freundschaft hart geprüft
Diese Elf, die mehr war als nur einfach eine Fussballmanschaft, sei damals in Sevilla angetreten, um fast vierzig Jahre später nochmals die Befreiung Frankreichs zu feiern. Doch die Leichtfüssigkeit, die Eleganz, das Traumtänzerische der Equipe Tricolore sei wieder mal der Nüchternheit, der Brutalität und Arroganz der Kollegen von der anderen Rheinseite unterlegen.
Präsident Mitterrand war damals erst ein Jahr im Amt – für viele französische Fans war die 82er Mannschaft die Inkarnation dieser Zeit des Umbruchs und neuer Hoffnungen.
Juli 82, das war noch zweieinhalb Jahre vor dem historischen Händedruck zwischen Mitterrand und Kohl über den Gräbern von Verdun. Die deutsch-französische Freundschaft war viel beschworen. Aber in der 57. Minute dieses WM-Halbfinales von Sevilla war es, als hätte eine einzige Geste des deutschen Nationaltorwarts die jahrzehntelange Arbeit des deutsch-französischen Jugendwerks zunichte gemacht.
Bild des hässlichen Deutschen
Die Brachialgewalt Toni Schumachers gegen Patrick Battiston hatte bei jungen und alten Franzosen im Handumdrehen wieder das Bild des hässlichen Deutschen heraufbeschworen. Schumachers Teilnahmslosigkeit am Tatort und seine spätere Arroganz vor 25 Millionen Franzosen live am Fernsehschirm taten ihr Übriges. Immerhin fehlten dem ausgeknockten Battiston, Busenfreund Platinis, vier Zähne und minutenlang fürchteten viele gar um das Leben des bewusstlosen Spielers.
Es hat etwas Faszinierendes, sich mehr als drei Jahrzehnte später mit Hilfe dieses Essays zu vergegenwärtigen, wie gewaltig der Schock, wie verheerend bei den Franzosen die Nachwirkungen der Geste Schumachers, des weiteren, dramatischen Verlaufs dieses Halbfinales und der so unendlich ungerechten Niederlage Frankreichs im Elfmeterschiessen waren. Jean Cau, einst immerhin Sekretär von Jean Paul Sartre, liess sich damals zu den Zeilen hinreissen: „Alles ist Krieg, 1914, 1940 und 1982, als Frankreich Deutschland auf dem Schlachtfeld von Sevilla traf.“
Dieses Halbfinale, so Pierre Louis Besse, war ein Spiel, bei dem man den Eindruck hatte, da habe einer jahrelang an der Dramaturgie gefeilt und auf der Bühne des Spielfelds hätten alle die ihnen zugeteilten Rollen gespielt, die der Guten und der Bösen, der Träumer und der Realisten, der Zauberer und der Schlächter – ein Stück, in dem die Handlung plötzlich einen ganz anderen Verlauf nahm und für die Guten in Tränen und tiefer Enttäuschung endete.
Dominique Rocheteau etwa spielte die Rolle des langhaarigen Rockfans der 68er Generation, Horst Hrubesch natürlich die des teutonischen Ungeheuers, Michel Platini u.a. die des Samariters mit der unvergessenen Geste, als er, die Hand des bewusstlosen Freundes haltend, Battiston auf der Bahre bis an den Spielfeldrand begleitete.
Mitterrand und Schmidt beschwichtigen
Es war ein Spiel, bei dem die viel beschworene deutsch-französische Freundschaft auf eine wahrlich harte Probe gestellt wurde. Präsident Mitterrand und Kanzler Schmidt sahen sich einige Tage danach sogar genötigt, eine gemeinsame und beschwichtigende Erklärung zu veröffentlichen.
Der Autor des Essays hat auch einen Brief des Schauspielers Francis Huster an Michel Platini ausgegraben, in dem es heisst:
„Verdammt noch Mal, Michel: Cyrano de Bergerac, Molière oder Jean Moulin in Frankreich, und anderswo auf der Welt Soldaten, Ärzte, Künstler, Sportler und Unbekannte sind gestorben, weil sie eines hatten nämlich: Panache – Mumm. Gegen den blinden Rohling, die Dummheit der reinen Kraft, die perfekte Muskelmasse habt ihr euere Poesie, eure Phantasie, eure Intelligenz und eure Finesse sprudeln lassen und, weisst du was noch, Michel? Ihr habt eure Demut gezeigt. Mit diesem Zusammenhalt, dieser Opferbereitschaft und diesem Mut habt ihr Millionen Menschen ein wunderbares Geschenk gemacht.“
Revanche für den Fussball der Schönheit
Der Fussball, den diese französische Nationalmannschaft damals spielte, hat für Pierre Louis Basse auch einen ideologischen Aspekt: Ein Fussball der Solidarität und der Schönheit sei das gewesen. „Die Helden des 8. Juli 82“, schreibt er, „hatten es nicht nötig, einen Sponsor auf ihrem Trikot herzuzeigen, um die Prämie für die Ewigkeit zu kassieren. Sie sind damals vielleicht gestorben, aber eben aufrecht und für ihre Ideen.“ Heute dagegen sei es verboten zu verlieren, man habe zum Beispiel 2006 einen Zidane am Ende seiner Laufbahn nur in die Nationalmannschaft zurückgeholt, um den Sponsoren eine wirtschaftliche Katastrophe zu ersparen.
Man will hoffen, dass das Halbfinale am 7. Juli in Marseille, fast auf den Tag genau 34 Jahre nach Sevilla, nicht erneut Anlass ist, um zur Kriegsrhetorik zu greifen und es bei dem Wort Revanche bleibt, das bereits durch alle Gazetten geistert: Revanche für Sevilla und Revanche für die französische 1:0-Niederlage im Viertelfinale der WM 2014.