In etwas mehr als einem Jahr, am 18. Oktober 2015, finden die Nationalratswahlen statt. Die Diskussionen über Strategien und Kandidaturen der Parteien sind erst am Anlaufen, der Bundesrat aber hat bereits im Sommer 2013 – erstmals wieder seit den Nationalratswahlen 2003 – die Verteilung der 200 Nationalratssitze auf die Kantone neu festgelegt. Aufgrund des unterschiedlichen Bevölkerungswachstums wird in den Kantonen Zürich, Aargau und Wallis je ein Sitz im Nationalrat mehr zu besetzen sein als bisher, Bern, Solothurn und Neuenburg haben einen Sitz weniger.
Die Verteilung der Nationalratssitze auf die Kantone basiert zum ersten Mal seit 1851 nicht mehr auf den Ergebnissen der traditionellen eidgenössischen Volkszählung, welche alle zehn Jahre durchgeführt wurde, sondern auf der 2010 eingeführten neuen Volkszählung. Diese erfasst – neben Personenbefragungen – jährlich Registerdaten, das sind Verwaltungsdaten aus kantonalen und kommunalen Einwohnerregistern sowie aus den Bundespersonenregistern im Ausländer- und Zivilstandsbereich. Aus diesen Quellen wird die Anzahl Personen der «ständigen Wohnbevölkerung» ermittelt, zu der gemäss Volkszählungsverordnung Personen schweizerischer Staatsangehörigkeit gehören sowie ausländische Staatsangehörige mit einer Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung für mindestens zwölf Monate und Personen im Asylprozess mit einer Gesamtaufenthaltsdauer von mindestens zwölf Monaten. Die neue Volkszählung macht es möglich, dass künftig die Sitze nicht mehr alle zehn Jahre, sondern für jede Nationalratswahl neu auf die Kantone verteilt werden.
«Auf je 20‘000 Seelen der Gesammtbevölkerung ein Mitglied»
Dass die Wohnbevölkerung Basis für die proportionale Verteilung der Nationalratssitze auf die Kantone sein soll, wurde bereits in der Bundesverfassung von 1848 festgelegt. Artikel 61 hielt fest: «Der Nationalrath wird aus Abgeordneten des schweizerischen Volkes gebildet. Auf je 20‘000 Seelen der Gesammtbevölkerung wird ein Mitglied gewählt. Eine Bruchzahl über 10‘000 Seelen wird für 20‘000 Seelen berechnet». Mit der Unterscheidung «schweizerisches Volk» und «Gesammtbevölkerung» wurde deutlich gemacht, dass zwar nur 20-jährige Männer mit Schweizer Bürger- und Stimmrecht wahlberechtigt und wählbar waren, dass aber im Nationalrat selber die gesamte Bevölkerung repräsentiert sein soll, also auch die Frauen, die Ausländer, die unter-20-Jährigen und jene, welche die Kantone aus Gründen wie Armengenössigkeit oder Nichtbezahlung von Steuern von den politischen Rechten ausgeschlossen hatten.
Kontinuierliches Wachstum der Bevölkerung und des Nationalrates
Bei den ersten Nationalratswahlen von 1848 waren 111 Sitze zu besetzen. Infolge des Bevölkerungswachstums stieg die Zahl der Nationalratssitze kontinuierlich an und erreichte 1890 147 Sitze und 1911 bereits 189 Sitze.
In den grossen Städten wuchsen die Ausländerzahlen besonders stark. Es überrascht so nicht, dass die «Gesammtbevölkerung» als Berechnungsbasis für die Verteilung der Nationalratssitze seitens der konservativen ländlichen Kantone unter Beschuss kam. Ende der 1890er Jahre lancierten die beiden Bauernpolitiker und Nationalräte Charles-Eugène Fonjallaz (FDP, VD) und Candid Hochstrasser (Katholisch-Konservativ, heute: CVP, LU) mit Unterstützung des Zürcher Bauernbundes eine Volksinitiative, welche die Nationalratssitze auf der Basis der Schweizer Wohnbevölkerung verteilen wollte. Bundesrat und Parlament stellten sich gegen das Begehren. Der Bundesrat machte geltend, dass die Ausländer in der Schweiz keine politischen Rechte besässen, dass sie aber Steuern und Zölle bezahlten, den gleichen Gesetzen unterstünden und den Wohlstand des Landes fördern helfen würden. Es sei daher «nur recht und billig, wenn sie wenigstens bei der Ausmittlung der Vertreterzahl mit in Betracht gezogen werden». Die Gesamtbevölkerung werde zudem auch in 18 Kantonen als Basis für die Verteilung der kantonalen Parlamentssitze auf die Wahlkreise verwendet (in fünf Kantonen – ZH, LU, UR, NW und TI – war die Zahl der Schweizer Bevölkerung massgebend, in zwei Kantonen – TG und VD – die Zahl der Stimmberechtigten).
Die Initianten ihrerseits betonten, dass sie das Gewicht der bäuerlichen Bevölkerung im Nationalrat heben wollten. Im Abstimmungskampf traten aber auch deutlich fremdenfeindliche Züge zu Tage. Mit ihrem Slogan «Die Schweiz den Schweizern» machte ein Initiativkomitee erstmals die ausländische Bevölkerung zum Streitobjekt einer Volksinitiative. In der Volksabstimmung vom Oktober 1903 nahm nur gerade knapp ein Viertel der Stimmenden die Vorlage an. In den katholisch-konservativen Stammlanden jedoch betrug die durchschnittliche Zustimmung 57% (angenommen wurde sie in UR, OW, NW, FR und VS). In den übrigen Kantonen wurde die Vorlage verworfen, sehr deutlich etwa in Genf (3% Ja-Stimmen) und Basel Stadt (11%).
Erhöhung der Vertretungsziffer auf «22'000 Seelen der Gesamtbevölkerung»
Das Bevölkerungswachstum hielt an. In den 1920er Jahren bestand der Nationalrat bereits aus 198 Sitzen und für die 1930er Jahre wurden 206 Sitze prognostiziert. Eine solche Parlamentskammer schien manchen zu gross und so reichte der katholisch-konservative St. Galler Eduard Guntli ein Postulat ein, in dem er anregte, die Vertretungsziffer zu erhöhen oder nur noch die Schweizer Bevölkerung als Verteilungsbasis zu nehmen. Der Zürcher Sozialdemokrat Emil Klöti wiederum machte eine fixe Zahl von Nationalratssitzen beliebt. Der Vorschlag, der im März 1931 zur Volksabstimmung kam, sah jedoch eine Änderung der Vertretungsziffer von 20'000 auf «22'000 Seelen der Gesamtbevölkerung» vor. Geschlossen für diese Änderung waren die konservativen Liberalen und die BGB (heute SVP), bei den Katholisch-Konservativen wichen einige Kantonalparteien von der Ja-Parole ab. Die FDP gab die Stimme frei. Als einzige Partei bekämpfte die SP die Vorlage, weil sie keine Verkleinerung des Nationalrates wollte. Nach einem eher lustlos geführten Abstimmungskampf wurde die Verfassungsänderung im März 1931 mit 54% Ja-Stimmen angenommen.
Keine Chance für die «Pfändler-Initiative»
1940 lancierte der Landesring der Unabhängigen (LdU), eine 1936 gegründete Partei, welche vor allem in der Deutschschweiz fast sechzig Jahre lang die politische Mitte besetzen sollte, eine Volksinitiative «für die Reorganisation des Nationalrates». Diese verlangte, dass die Vertretungsziffer auf 30'000 Einwohner erhöht und dass die Amtsdauer auf zwölf Jahre beschränkt werde. Weiter sollten die vorgedruckten Kumulationen auf den Wahllisten abgeschafft und der Beruf und die Verwaltungsratsmandate amtlich bekannt gegeben werden. Im Abstimmungskampf stand der LdU alleine da. Alle anderen Parteien waren geschlossen gegen die Initiative, die nach ihrem Promotor Otto Pfändler, dem St. Galler Nationalrat und Geschäftsleiter des LdU, auch «Pfändler-Initiative» genannt wurde. In der Volksabstimmung vom Mai 1942 wurde die Vorlage mit 35% Ja-Stimmen abgelehnt.
Erneute Erhöhung der Vertretungsziffer...
Das Bevölkerungswachstum brachte es mit sich, dass in den 1940er Jahren die Sitzzahl im Nationalrat bereits wieder auf 194 zu liegen kam. Der Bundesrat zeigte sich daher bereit, das Postulat des Zürcher Freisinnigen Hermann Häberlin für eine Erhöhung der Vertretungsziffer von 22'000 auf 24'000 entgegen zu nehmen. Wieder wurde in den politischen Diskussionen die Beschränkung der Verteilungsbasis auf die Schweizer Bevölkerung vorgeschlagen, erneut ohne Chance. Alle Parteien stellten sich schliesslich hinter die vorgeschlagene Änderung. In der Volksabstimmung vom Dezember 1950 wurde die Erhöhung der Vertretungsziffer mit 67% Ja-Stimmen gut geheissen.
... und der Wechsel zum «Rat der 200»
Doch auch mit der Vertretungsziffer 24'000 kam die Zahl der Sitze im Nationalrat für die 1950er Jahre auf 196 zu liegen. Angesichts des anhaltenden Bevölkerungswachstums schlug der Bundesrat 1961 einen Wechsel auf eine fixe Zahl der Nationalratssitze vor. Früher hatte er sich stets gegen einen «numerus clausus» gewehrt. Auch wenn in den parlamentarischen Verhandlungen ein weiteres Mal vorgeschlagen wurde, die Verteilungsbasis auf die Schweizer Bevölkerung zu beschränken, wurde diesem Vorschlag nicht stattgegeben. Im Hinblick auf die Volksabstimmung sprachen sich alle Parteien für den Wechsel zum «Rat der 200» aus, ausser den Katholisch-Konservativen, welche Stimmfreigabe beschlossen. Regionale Opposition gab es allenfalls dort, wo Sitzverluste befürchtet wurden (GL, FR, GR und TI). Bei einer sehr schwachen Stimmbeteiligung von 36% wurde die Vorlage mit 64% Ja-Stimmen angenommen. 19 Kantone stimmten ihr zu, klar verworfen wurde sie in Glarus und Freiburg (mit rund 15% Ja-Stimmen) sowie in Graubünden (23%). Damit wurde jene Regelung eingeführt, die auch heute noch gilt.
Die Methode mit dem «grössten Rest»
Für die proportionale Verteilung der 200 Nationalratssitze auf die Kantone wurde die Methode mit dem «grössten Rest» bestimmt. Diese wird auch Bruchzahlverfahren genannt oder auch Hamilton-Verfahren (nach dem amerikanischen Gründervater Alexander Hamilton, 1755–1804) oder Hare-Verfahren (nach dem Engländer Thomas Hare, 1806–1891).
Im Bundesgesetz über die politischen Rechte wurden dazu folgende drei Verteilungsschritte festgelegt: (1) In der so genannten Vorwegverteilung erhält jeder Kanton einen Sitz im Nationalrat zugeteilt, dessen Bevölkerung kleiner ist als 1/200 der Gesamtbevölkerung der Schweiz. Für die Nationalratswahlen 2015 sind dies die vier Kantone Uri, Obwalden, Glarus und Appenzell Innerrhoden. Diese Kantone scheiden nun für die weitere Verteilung aus. (2) Für die Hauptverteilung wird eine Verteilungszahl ermittelt, indem die Einwohnerzahl der verbleibenden Kantone durch die Zahl der noch nicht verteilten Sitze dividiert wird. Darauf wird für jeden Kanton die Einwohnerzahl durch diese Verteilungszahl dividiert. Jeder Kanton erhält so viele Sitze, wie sein Hauptverteilungsquotient vor dem Komma anzeigt. (3) In der Restverteilung schliesslich werden die verbleibenden Sitze jenen Kantonen zugeteilt, deren Hauptverteilungsquotienten die grösste Restzahl hinter dem Komma aufweisen. Für die Nationalratswahlen 2015 gibt es auf der Basis des Bundesratsbeschlusses von 2013 zwölf Restmandate (ZH, BE, LU, SZ, ZG, BS, BL, SH, GR, AG, VS und JU).
Die Methode mit dem «grössten Rest» ist nicht dasselbe Verteilungsverfahren wie jenes, das seit 1919 bei der proportionalen Verteilung der Nationalratsmandate auf die Parteien zur Anwendung kommt. Dieses wird in der Schweiz Hagenbach-Bischoff-Verfahren genannt und stand bei den parlamentarischen Verhandlungen über die Gesetzesänderung ebenfalls zur Diskussion. Weil es aber die Grösseren gegenüber den Kleineren bevorteilt, gab man der Methode mit dem «grössten Rest» den Vorzug, denn diese macht bei der Verteilung der Restmandate keinen Unterschied zwischen den Grossen und den Kleinen. Damit wollte man auch den ländlichen Vertretern entgegen kommen, welche sich durch die Sitzverteilung auf der Basis der «Gesamtbevölkerung» benachteiligt fühlten.
Die Berner Delegation im Nationalrat schrumpft
In den letzten fünfzig Jahren haben sich die Gewichte der Kantone im Nationalrat insgesamt nur leicht verschoben, abgesehen vom Kanton Bern, der bis in die 1960er Jahre im Nationalrat mit rund 33 Sitzen am stärksten vertreten war. Ab den 1970er Jahren musste er kontinuierlich Sitze abgeben, für die Nationalratswahlen 2015 stehen Bern noch 25 Sitze zu. Neben dem eher gemächlichen Bevölkerungswachstum und der speziellen Bevölkerungsstruktur (niedriger Ausländeranteil) sind als Erklärung auch territoriale Gebietsabtretungen zu nennen (vor allem die Gründung des Kantons Jura und der Kantonswechsel des Laufentals zu Basel-Landschaft).
Ebenfalls markant weniger Nationalratssitze im Vergleich zu den 1960er Jahren hat der Kanton Basel-Stadt (5 statt 8). Je einen Sitz abgeben mussten auch die Kantone Solothurn, St. Gallen und Neuenburg sowie Glarus und Appenzell Ausserrhoden. Die beiden Letztgenannten wurden damit zu Majorzkantonen mit nur noch einem Sitz im Nationalrat.
Auf der Gewinnerseite stehen im Vergleich zu den 1960er Jahren die Kantone Aargau (+3 Sitze), Basel-Landschaft und Waadt (je +2) sowie der 1979 neu gegründete Kanton Jura (2). Je ein Mandat dazugewonnen haben die Kantone Luzern, Schwyz, Zug, Freiburg, Tessin, Wallis und Genf.
Die Wahlkreisgrösse beeinflusst den Schwellenwert für Vollmandate
Die Anzahl der Sitze, welche den einzelnen Kantonen im Nationalrat zustehen, bestimmt die Höhe des relativen Stimmenanteils, den eine Partei bzw. eine Wahlliste in einem Kanton überschreiten muss, um ein sicheres Mandat (ein sog. Vollmandat) zu erhalten. Dieser Stimmenanteil, auch «Schwellenwert» genannt, berechnet sich, indem der Wert 100% durch die um 1 erhöhte Zahl der Nationalratssitze des Kantons dividiert wird. Bei zwei Sitzen z.B. beträgt der zu übertreffende Schwellenwert 33,3%.
In Kantonen mit einer niedrigen Sitzzahl ist der «Schwellenwert» hoch, und der Proporzeffekt ist stark eingeschränkt. In sechs Kantonen, in denen nur ein Sitz zu vergeben ist, wird gar nach Majorz gewählt (UR, OW, NW, GL, AI und AR). In weiteren 13 Kantonen sind zwei bis acht Sitze zu vergeben: in diesen müssen die Parteien theoretisch einen Stimmenanteil von 11,1% (bei 8 Sitzen) bzw. 33,3% (bei 2 Sitzen) übertreffen, um ein Vollmandat zu erhalten. Kleine Parteien und Gruppierungen haben so vor allem in grossen Kantonen eine Chance auf einen Nationalratssitz, namentlich in den sieben Kantonen mit zehn oder mehr Sitzen (ZH: 35, BE: 25, VD: 18, AG: 16; SG: 12, GE: 11, LU: 10). In diesen bewegt sich der zu überschreitende «Schwellenwert» für ein Vollmandat zwischen 2,8% und 9,1%. Eine Partei kann aber auch mit einem niedrigeren Stimmenanteil einen Sitz gewinnen, wenn sie ihre Wahlliste mit einer oder mehreren Wahllisten anderer Parteien verbindet. Zudem können auch kleinere Parteien gelegentlich in den Genuss eines Restmandates kommen.
Mit der Neuverteilung der Sitze für die Nationalratswahlen 2015 sinkt in den Kantonen, die einen zusätzlichen Sitz erhalten, der Schwellenwert für ein sicheres Vollmandat: in Zürich von 2,9% auf 2,8%, im Aargau von 6,3% auf 5,9% und im Wallis von 12,5% auf 11,1%. In den Kantonen Bern, Solothurn und Neuenburg wird es dagegen für die Parteien etwas schwieriger: Sie müssen bei den kommenden Nationalratswahlen in Bern 3,8% statt 3,7% der Stimmen für ein Vollmandat aufbringen, in Solothurn 14,3% (statt 12,5%) und in Neuenburg 20% statt 16,7%.