Wie ein dumpfes Grollen taucht in dem Heft an mehreren Stellen die Frage auf, ob das Selbst Seiten haben könnte, die wir in unserer Kultur für überwunden gehalten hatten: Zorn, Hass, Ressentiment. Diese Seiten zeigen sich insbesondere an den rechtspopulistischen Bewegungen, die für sich beanspruchen, das unverstellte Selbst des Volkes gegenüber der etablierten Politikerkaste zum Ausdruck zu bringen.
Volkes Stimme?
Diese Art der Authentizität untergräbt die politische Kultur. Die abschreckende Symbolfigur dafür ist Donald Trump. Es wäre aber ein Irrtum, anzunehmen, dass diese Bewegungen schlichtweg von dummen Leuten angeführt werden. So ist Marc Jongen, der die AfD die mit einem „Manifest“ ausstatten will, ein ehemaliger Assistent von Peter Sloterdijk. Er möchte die „Thymos-Spannung“ der Gesellschaft neu zur Geltung bringen, um sie gegen die vitalen Kräfte der anrennenden Völkerscharen zu richten. Damit trivialisiert Marc Jongen Gedankengänge, die Sloterdijk in seinem Buch „ Zorn und Zeit“ bereits 2006 dargelegt hat.
Der Politologe Yascha Monk legt in einem Interview dar, dass wir uns schon seit längerem in einem Strukturwandel befinden, „der die Grundfeste unserer politischen Ordnung untergräbt“. Denn es entwickeln sich „illiberale Demokratien“ wie in der Türkei, Ungarn und neuerdings auch in Polen, „indem die Volksstimme die Politik bestimmt, die Rechte des Einzelnen aber immer stärker verletzt werden.“
Kollektive Leitbilder
Die Pointe am vorliegenden Heft besteht nun darin, dass diese Perspektive an mehreren Stellen gedreht wird. Der Blick richtet sich also nicht allein auf politische Makrostrukturen, sondern setzt am Individuum an. Denn dieses hat sich im Umgang mit seinem Selbst eben auch entscheidend geändert. Seine Art, wie es sich formt und präsentiert, wird zum Beispiel von dem Nutzen bestimmt, den es sich davon erwartet.
So gilt es heute, fit zu sein. Dieser Gedanke ist natürlich trivial, aber in einem Beitrag von Nils Markwardt begegnet uns der „austrainierte Fitnesstaliban“. Das Kollektiv erzeugt also gewisse Leitbilder, denen sich der Einzelne unterwirft und somit dafür sorgt, dass diese Leitbilder immer verbindlicher werden.
Wert der Privatheit
In diesem Zusammenhang sind zwei Gedanken, die in dem Heft diskutiert werden, von grösster Bedeutung. In einem Gespräch zwischen dem Kulturwissenschaftler und Soziologen Harald Welzer mit dem Rechtstheoretiker Reinhard Merkel stellen die beiden fest, dass es heute kaum noch möglich ist, Gedanken in experimenteller Form zu entwickeln und zu äussern, wenn sie gegen Mehrheitsüberzeugungen verstossen. Alles muss irgendwie politisch korrekt sein, und Harald Welzer beschreibt, dass während seiner öffentlichen Vorträge ständig irgendjemand ein Aufnahmegerät laufen hat und er deswegen fürchten muss, dass irgendein Gedanke aus dem Zusammenhang gerissen an die Öffentlichkeit gelangt. Er vermutet sogar, dass es eines Tages Suizide aufgrund von Shitstorms in den sozialen Medien geben könnte.
Deswegen besteht Harald Welzer auf dem Wert der Privatheit. Er beobachtet, dass diese Privatheit zunehmend verschwindet und mit ihr die Freiheit , „obwohl nach aussen und von der Regierungsform her alles im Lot zu sein scheint. Als These: Zu Freiheit und demokratischer Selbstbestimmung gehört ganz wesentlich Privatheit.“
Bühne und Markt
Eine Zuspitzung erfährt dieser Gedanke in dem Beitrag des Philosophen Byung-Chul Han. Bezugnehmend auf den amerikanischen Soziologen Richard Sennett unterscheidet er zwischen der Bühne, auf der Handlungen stattfinden, und dem Markt, “auf dem Intimitäten ausgestellt, verkauft und konsumiert werden“. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass im Theater Schauspieler Rollen übernehmen, und jeder weiss, dass es sich im aufgeführten Stück um ein Spiel und nicht um den Ausdruck der momentan Seelenzustände der Schauspieler handelt.
Diese Unterscheidung zwischen dem Rollenspiel und der Zurschaustellung von Authentizität sei zunehmend verloren gegangen, worunter auch die Qualität von Theateraufführungen leide. An die Stelle von subtilen Beziehungsmustern seien expressives Gebrüll und und krasse Darstellungen getreten.
Verlust der Distanz
Für das alltägliche Leben bedeutet dies wiederum: „Die Intimgesellschaft vernichtet Spiel-Räume.“ Da jeder jederzeit ein Maximum an Authentizität einbringt, geht jede Form von Distanz verloren. Ohne Distanz gibt es im wahrsten Sinne des Wortes keine Spielräume mehr.
Auch das neue Philosophie Magazin bietet darüber hinaus eine Fülle von weiteren Themen. Auf der Titelseite hervorgehoben ist ein Interview mit der französischen Alt-Feministin Elisabeth Badinter. Leider bewegen sich Ihre Äusserungen haargenau im Rahmen des Erwartbaren. Verdienstvoll ist dagegen der Hinweis auf das neueste Buch von Alexander Kluge. Und eine Bemerkung ganz am Anfang des Heftes löst Grübeln im besten Sinne des Wortes aus:
Der Zeichner und Schriftsteller Tomi Ungerer, Jahrgang 1931, beantwortet für das Philosophie Magazin regelmässig Kinderfragen. Eine lautet in diesem Heft: „Was gewinnt man, wenn man einen Krieg gewinnt?“ Seine Antwort: „Man kann eine Schlacht gewinnen, aber keinen Krieg.“ Denn ein Krieg erzeuge Rachegefühle. Es gebe eine Ausnahme, die er als gebürtiger Elsässer hautnah miterlebt habe: die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich. Und dann kommt der Satz, der die Pforten des Nachdenkens aufstösst: „Übrigens hasse ich den Hass.“ - Kann man dabei stehen bleiben?
Philosophie Magazin, „Wer ist mein wahres Selbst?“, April/Mai 2016