Jedes Heft stellt indirekt die Frage: Was kann Philosophie? Schwerpunktmässig geht es diesmal um Krisen. Was leistet die Philosophie zu ihrer Bewältigung?
Doppelte Verlierer
Jeder glaubt zu wissen, was Krisen sind. So unterschiedlich sie sein mögen, so handelt es sich doch jedes Mal um Zustände, die man möglichst rasch und effizient überwinden möchte. Dazu gibt es zahlreiche Hilfsangebote aus der Beratungsindustrie. Und überhaupt ist jeder gut beraten, sich für den Fall eines Falles fit zu machen und ein Maximum an Resilienz, also Flexibilität, zu entwickeln.
Wer an Krisen scheitert, ist in doppeltem Sinne ein Verlierer. Denn er hat sich als zu schwach erwiesen, die Krise zu bewältigen, und nun sitzt er in einem Keller, aus dem er nicht wieder herauskommt. Einen solchen Zustand gilt es um alles in der Welt zu vermeiden. – Das ist das landläufige Verständnis, und es passt gut in eine Zeit, die keine Probleme, sondern nur noch Herausforderungen kennen will.
Komfortabel, aber verlassen
Aus philosophischer Sicht ergeben sich ganz andere Perspektiven. In drei Beiträgen dieses Heftes sind sie eindrücklich dargelegt. Ein Beitrag stammt vom Chefredakteur Wolfram Eilenberger, ein anderer von der stellvertretenden Chefredakteurin Svenja Flasspöhler und der dritte von der Philosophin Ariadne von Schirach. Sie schreibt: "Wir sind auf Erden niemals ganz zuhause. Geschweige denn in uns selbst."
Damit markiert Ariadne von Schirach in äusserster Kürze und Präzision den Punkt, auf den der philosophische Blick fokussiert. Krisen sind keine Unfälle, denen man mit dieser oder jener Massnahme vorbeugen könnte und die schlimmstenfalls zum Gegenstand einer Schadensabwicklung werden, sondern sie gehören zur condition humaine. Der Mensch ist eben so gestrickt, dass er ohne die Krise gar nicht denkbar ist. Dieses Thema entfaltet sie nicht an dem mehr oder weniger hoch abstrakten Theoriebestand der Philosophiegeschichte, sondern an einem ganz trivialen Alltagsbeispiel: Sie trifft einen Mann, der komfortabel in einer grossen Wohnung lebt; aber seine Lebensgefährtin hat ihn verlassen.
Lebloses Bild
Daraus ergibt sich ein Dialog, vielleicht ein inneres Zwiegespräch. Was treibt uns dazu, das, was uns eigentlich Sicherheit und Geborgenheit verspricht, immer wieder zu überschreiten? Sind es die anderen? Oder sind es nicht vielmehr wir selbst? Sie schreibt: "Wir selbst sind das Unvollständige, das Werden." Aber diese Anlage des Menschen passt nicht in unsere Zeit:
"Das Versprechen, dieses Getriebene, Ambivalente und Unpassende des Menschen zu domestizieren, zu vereinheitlichen und letztlich in einem ebenso vollständigen wie leblosen Bild erstarren zu lassen, um dadurch vermeintliche Sicherheit zu garantieren, ist das Unheimlichste an unserer ökonomisierten Gegenwart." Deswegen plädiert sie dafür, die Brüche und Krisen auch im Sinne des Mitleidens mit anderen als Lebensbedingung hinzunehmen. "Unsere Häuser sind nicht von Dauer. Aber unsere Zärtlichkeit."
Friedrich Nietzsche
In ihren Überlegungen bezieht sich Ariadne von Schirach auf Søren Kierkegaard und seinen Begriff der Angst. Ein anderer Denker der existenziellen Krise steht im Mittelpunkt des Beitrags von Wolfram Eilenberger: Friedrich Nietzsche. Von ihm stammt der Satz, den jeder kennt und der ständig wiederholt wird: "Was mich nicht umbringt, macht mich stärker." Dieser Satz liest sich wie eine Anleitung für das Marketing der Fitnessindustrie, aber er ist das Gegenteil davon. Denn für Nietzsche wurzelte die Krise in dem Bruch, der zwischen der Vergangenheit und der Zukunft verläuft. Denn in diesem Graben, der sich dort auftut, verlieren wir die Orientierung.
Es gelingt Eilenberger, in aller Kürze deutlich zu machen, wie gross die Herausforderungen waren, vor die sich Nietzsche stellte. Ihm war klar, dass die Vergangenheit keine Orientierung für die Zukunft bietet, die Zukunft aber als unbekannte Grösse auch keine Antworten geben kann. Das Individuum ist auf sich allein gestellt und ringt verzweifelt um eine Lösung. Da es die grosse Lösung nicht gibt, sind es am Ende "Nebensächlichkeiten", die Halt bieten und das Überleben sichern.
Riskante Sicherheit
Svenja Flasspöhler führt verschiedene Perspektiven zum philosophischen Verständnis der Krisen zusammen. In Anlehnung an Peter Sloterdijk macht sie darauf aufmerksam, dass der Mensch aufgrund der Offenheit des modernen Weltbildes gezwungen ist, Halt und Geborgenheit in sich selber zu finden. Das gelingt aber nur unzureichend, und deswegen versucht er, dem Unbekannten der Zukunft mit möglichst vielen Konstanten zu begegnen. Damit aber erreicht er genau das Gegenteil von Sicherheit:
"Der Versuch, jede Krise verhindern zu wollen, macht unsere Welt nicht stabiler, sondern ganz im Gegenteil fragiler – lässt sich doch das Unvorhersehbare per definitionem nicht vorher sehen und also auch nicht aus der Welt schaffen." Der Ökonom Nassim Nicholas Taleb hat aus dieser Not eine Tugend gemacht und mit grossem Erfolg auf das absolut Unbekannte gesetzt, den "Schwarzen Schwan". Aber Flasspöhler fragt: "Was unterscheidet die Wette auf den Schwarzen Schwan von einem unverantwortlichen Glücksspiel?"
Das Oxymeron
Und sie stellt eine andere, sehr schwerwiegende Frage: Was ist mit Menschen, denen unvorstellbares Leid zugefügt worden ist? Wie können sie aus diesen "Krisen" herausfinden? Dabei bezieht sie sich auf den französischen Neuropsychiater und Psychoanalytiker Boris Cyrulnik, der sich mit Kindern beschäftigt hat, die in Konzentrationslagern gelebt haben. Er hat dabei herausgefunden, dass Menschen überleben können, wenn sie die traumatischen Erfahrungen abspalten und sich auf Elemente konzentrieren, "die noch ein wenig Glück verschaffen". Verzweiflung und Glück liegen nebeneinander, sie bilden ein "Oxymoron", ein hölzernes Eisen. Das zeigt sich daran, dass auch in der grössten Not so etwas wie Tagträume und Humor möglich sind. Aber es ist immer ein Wandeln am Abgrund.
Überhaupt, und damit beendet Svenja Flasspöhler ihren Beitrag, ist die Fähigkeit des Menschen, sich gegen Krisen zu wappnen, im höchsten Masse fragwürdig: "Was, wenn die Vorstellung, auch in Krisenzeiten zu wachsen, immer noch weiter wachsen zu können, die Pockenkrankheit des 21. Jahrhunderts wäre? Möglich ist es. Ja, sogar wahrscheinlich."
Lust an der Unterwerfung
Diese drei Beiträge sind herausragend. Enttäuschend dagegen ist das Gespräch zwischen Roker Willemsen und Thomas Macho. Beide sind brillante Köpfe, aber man hat das Gefühl, dass das Gespräch merkwürdig uninspiriert ist. Überhaupt zeigt dieses Heft einmal wieder, wie schwer es ist, alle zwei Monate ein anspruchsvolles Heft zum Thema der Philosophie zu gestalten. Vieles ist sicherlich Geschmackssache. Das zweite Schwerpunktthema dieses Heftes ist: „Lust an der Unterwerfung. Von Sacher- Masoch zu Shades of Grey". Auch hier finden sich interessante Informationen und Gedanken, aber unentbehrlich sind diese Beiträge nicht.
Herauszuheben sind noch die Überlegungen von Rainer Forst zur Toleranz und die Einführung des Physikers und Philosophen Étienne Klein in Augustins Philosophie der Zeit. Und der Buchhinweis von Gert Scobel auf Jürgen Werner, "Tagesrationen. Ein Alphabet des Lebens", ist eine zusätzliche Perle in einem insgesamt anregenden Umfeld.
Philosophie Magazin, Nr. 02/2015, Februar/März