Susan Neiman, die sich intensiv mit dem Bösen auseinandergesetzt hat – „Das Böse denken“, Suhrkamp 2004 – macht in einem Interview zum aktuellen Heft eine wichtige Beobachtung: „Böse“ werde eine Tat dann genannt, wenn sie unser Weltbild und unsere Erklärungsmuster sprenge. „Sie erschüttert eben jenes Vertrauen in die Welt, das wir benötigen, um überhaupt handeln und uns orientieren zu können.“
Das Rätsel des bösen Willens
Entsprechend weit ist der Bogen in diesem Heft gespannt. Unterschiedlichste Persepktiven werden miteinander verknüpft. Das gelingt erstaunlich gut. Schon der einleitende Essay der stellvertretenden Chefredakteurin Svenja Flasspöhler gibt einen guten Überblick.
Flasspöhler unterscheidet verschiedene Arten des Bösen und verweist auf eine Aporie bei Immanuel Kant. Ganz im Sinne der Aufklärung sieht er die Vernunft als prinzipiell gut an, da sie aus sich heraus nur Anweisungen geben kann, die „vernünftig“, also auch ethisch gut sind. Warum aber handelt der Mensch dann willentlich böse? Das ist ein ungelöstes Problem.
Erhabenheit und Banalität des Bösen
Bei Marquis de Sade findet Flasspöhler das „erhabene Böse“. Indem er das Böse zelebriere, setze er es als eine eigenständige Gegenmacht ein. Wir verstünden das besser, als uns recht sei, denn sonst würden wir die Bilder vom Bösen im Kino und im Fernsehen nicht so geniessen – bis hin zum Anschlag auf das World Trade Center.
Neben dieses Sensationserlebnis des Bösen stellt Flasspöhler die „Banalität des Bösen“. Es nistet in den Strukturen unserer komplexen Gesellschaften und besteht eigentlich nur darin, dass Leute Befehle ausführen, ohne sich viel dabei zu denken. Dieser Gedanke wurde am schärfsten von Hannah Arendt formuliert, als sie über den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem berichtete und ihr dieser Verbrecher in seiner ganzen Art einfach als banal erschien. Provozierend fragt Flasspöhler, ob nicht etwas Ähnliches in der Weise liegt, wie wir gedankenlos in unserer Gesellschaft konsumieren und die Folgen mehr oder weniger billigend in Kauf nehmen.
Die "Perfektionslogik"
Die Autorin Marianna Lieder bezieht sich unter anderem auf das Buch,“Die Ökonomie von Gut und Böse“, des Ökonomen Tomáš Sedláček. Die Dynamik unserer Gesellschaft sieht Tomáš Sedláček darin, dass das Gute für uns nicht gut genug sei. Wir wollen immer mehr und immer Besseres haben und unterminieren damit unsere Grundlagen. Dahinter stecke eine „Perfektionslogik“, die ungewollt böse Folgen habe.
Eine ähnliche Dynamik, nur ganz anders konfektioniert, finden wir in den bahnbrechenden Experimenten von Stanley Milgram und Philip Zimbardo. Leider geht die Autorin darauf nur sehr kurz und summarisch ein. Denn beide Sozialpsychologen haben gezeigt, dass ganz durchschnittliche Menschen unter bestimmten Rahmenbedingungen Taten vollbringen, die man nur Menschen ohne Gewissen zutraut.
Freiheit oder Fehler der Hardware?
Um diese Frage dreht sich auch die sehr anregende Diskussion zwischen dem Philosophen Rüdiger Safranski und dem Gefängnisarzt und Tatort-Schauspieler Joe Bausch. Safranski, der selbst ein bemerkenswertes Buch über das Böse verfasst hat, besteht darauf, dass das Böse eine Folge der Freiheit des Menschen sei. Umgekehrt interessiert ihn brennend, ob der Gefängnisarzt bei Schwerstkriminellen pathologische Störungen ausmachen kann. Obwohl es heute möglich ist, mittels Magnetresonanztomografen die Gehirne von Schwerverbrechern auf Fehler in der „Hardware“ zu untersuchen, gibt es noch keine eindeutigen Befunde.
Alle Beiträge sind informativ, anregend und bieten in der Kürze viel. Es bleibt nicht aus, dass vieles auch verkürzt wird. Um diesen Mangel ein wenig zu kompensieren, wurde eine Doppelseite von Christina Feist mit Schlaglichtern auf das Alte Testament und grosse Philosophen von Augustinus bis Hans Blumenberg zusammengestellt. Das reicht aber nicht.
Die Nachtseiten
Man wünschte sich zu den einzelnen Thesen eine kurze kommentierte Auswahl weiterführender Literatur. Auch da, wo zwei Wissenschaftler direkt zu Wort kommen, der Evolutionsbiologe Franz M. Wuketits und der Psychoanalytiker Norbert Haas, sind die Perspektiven sehr eng. Psychologie ist eben weit mehr als nur Psychoanalyse, und wenn Wuketits sich auf Charles Darwin bezieht, fehlt bei ihm völlig das tiefe Erschrecken Darwins über die Nachtseiten der Natur. Henning Ritter hat dies in seinem Buch, „Die Schreie der Verwundeten“, C. H. Beck 2013, eindrücklich dargelegt.
Das Heft enthält aber mehr als das Schwerpunktthema. So findet sich darin ein Briefwechsel zwischen Nadja Tolokonnikova mit dem Philosophen Slavoj Žižek. Das inhaftierte Mitglied der russischen Gruppe Pussy Riot entwickelt zusammen mit dem Philosophen Žižek den Gedanken, dass der Kapitalismus letztlich so autoritär sei wie der Stalinismus und es darauf ankomme, die Welt ohne Experten, gewissermaßen aus dem Blickwinkel von Kindern heraus, neu zu erfinden. – Ob das nun anspruchsvolle Philosophie ist, sei dahingestellt.
Der humorvolle Peter Singer
Eine sehr schöne Überraschung wiederum bietet ein Gespräch des Magazins mit dem australischen Philosophen Peter Singer. Singer hatte in den letzten Jahrzehnten immer wieder mit seinen Thesen zum behinderten Leben und der Würde der Tiere heftigste Reaktionen ausgelöst. Er gilt als Vertreter des Utilitarismus. Entsprechend hat ihn das Magazin mit einer Reihe von heiklen persönlichen Fragen konfrontiert. Die Art, wie Singer darauf eingeht, ist erfrischend und sympathisch zugleich. Hier zeigt sich, dass der viel gescholtene Utilitarismus in seinem Kern humorvoll und human sein kann.
Darüber hinaus bietet das Heft eine Reihe von kleinen Beiträgen, die aktuell und nachdenkenswert sind. Für die an Philosophie Interessierten ist diese Ausgabe wieder einmal ebenso unterhaltsam wie anregend.
Philosophie Magazin, Winterausgabe, Nr. 01 - Dezember/Januar 2013/14