Dieser Bildband kommt ohne jede Bildlegende aus. Man erfährt nur, dass Michael von Graffenried seine Fotos in einem Zeitraum von 15 Jahren in New Bern angefertigt hat und dass sie das alltägliche Leben zeigen. 35 Prozent der Einwohner seien Schwarze, und im Zusammenhang mit «Black Lives Matter» habe es die grösste Demonstration gegeben, die diese Stadt je gesehen hat.
Eine Art Sucht
Mehr erfährt man nicht über die zahlreichen Bilder dieses opulenten Bandes im Querformat. Die meisten Fotos sind farbig und gehen über zwei Seiten. Massstabsgetreu würden sie kaum auf eine Breitwand-Projektionsfläche in einem Kino passen. Der Fotograf hat sich also auf einen ganz spezifischen Blickwinkel festgelegt, in den er die Betrachter hereinzieht.
Zumindest auf den zweiten Blick wandern die Augen bei jedem Bild von links nach rechts, wie wenn man einen Text lesen würde. Und man kann mit dieser Art des Lesens gar nicht mehr aufhören. Schon nach kurzer Zeit entsteht eine Art Sucht, die zum Weiterblättern führt. Und das, obwohl man sich bei jedem Bild einen eigenen Reim auf den Inhalt machen muss, ohne dass eine Legende die eigenen Vermutungen bestätigen oder korrigieren würde. Aber darin liegt der Reiz: Man erkundet auf eigene Faust die Bilder und schaut immer genauer hin.
Auf fast allen Bildern sind Menschen zu sehen, und spontan kann man den jeweiligen Zusammenhang grob benennen: Sportveranstaltung, Freizeit, Nachbarschaft, religiöse Zeremonie, Vereinsleben, Umgang mit Waffen, Motorradfahrer und so weiter. Aber wenn es darum geht, die Minen und Gesten auf den Bildern zu deuten, wird man unsicher. Sind die Menschen gelöst, fröhlich oder doch eher gedämpft und angespannt? Wie stehen sie zueinander? Beobachten wir Resignation, verdeckte Aggressionen, oder bilden wir uns das bloss ein?
Fragen und Geschichten
Diese Fantasien und Gedankenspiele sind faszinierend. Man stellt sich zum Beispiel vor, man würde in eine dieser Versammlungen geraten. Manche schauen ja direkt in die Kamera, also indirekt auf den Betrachter. Was würde man sagen, wem spontan vertrauen, wer würde einen näher interessieren? Beim Betrachten entstehen Fragen und mögliche Geschichten, und man hätte Lust, mit anderen darüber zu reden, wie sie diese Bilder sehen und interpretieren.
Nur wenige der Menschen in den Bildern sind attraktiv oder sogar schön. Mit ihren Kleidungen, Ritualen und Gewohnheiten wirken sie bisweilen wie die Angehörigen einer überaus befremdlichen Spezies. Man würde sie wohl überall als Amerikaner erkennen. Gibt es etwas unverwechselbar Amerikanisches, etwas, das New Bern klar von Bern unterscheidet? Ganz sicher ist es die Inbrunst religiöser Versammlungen. Und dann sticht die Wichtigkeit der Sportvereine mit ihren Veranstaltungen ins Auge. Dazu kommen Vereine von Veteranen und andere, vielleicht karitativer Art, mit ihren spezifischen Festen, auf die wir uns nur schwer einen Reim machen können.
Graffenried bietet Einblicke in eine Kultur, die befremdend und anziehend zugleich ist. Seine Bilder beschreiben, aber kritisieren nicht. Er begibt sich mit seiner Kamera mitten ins Leben, wie er es schon mit seinen Fotos vom «Bierfest» gemacht hat. Er ist, wie man in der Ethnologie sagt, «teilnehmender Beobachter».
Natürlich weiss Michael von Graffenried, das sein Projekt, das er fünfzehn Jahre lang verfolgt hat, gewollt oder ungewollt in der Tradition zweier grosser Vorgänger steht: Walker Evans und Robert Frank. Es ist daher aufschlussreich, die Bände «American Photographs» (1938) von Walker Evans und «The Americans» (1958/1959) von Robert Frank noch einmal anzuschauen. Beide Bände sind Meilensteine der Fotografiegeschichte, und es gibt Experten, die Robert Franks «Americans» für den wichtigsten fotografischen Bildband des 20. Jahrhunderts halten. Beide Werke sind natürlich schwarzweiss und entsprechen dem Stand der damaligen Fototechnik. Mit seinen farbigen digitalen Bildern ergibt sich dazu bei Graffenried ein derartig grosser Abstand, dass sich ein Bezug auf seine Vorgänger auf den ersten Blick erübrigt.
Das Leben der Mittelschicht
Aber gesellschaftsgeschichtlich ist ein Vergleich ergiebig. Denn Walker Evans wie Robert Frank wurde vorgeworfen, eine zu dunkle Seite von Amerika hervorzuheben. Bei beiden ist das am Anfang Amerikas festgeschriebene Recht auf «Streben nach Glück» einer grossen Ernüchterung gewichen, zu der krasse Armut gehört. Aber selbst diejenigen, die den Aufstieg geschafft haben, wirken nicht glücklich. Die Gesichter sind verkniffen, die Gesten unbeholfen und über allem liegt ein Schleier der Resignation. Man weiss zwar, was Glück sein sollte, aber man hat es nicht gefunden.
Michael von Graffenried zeigt etwas anderes. Auch in seinen Bildern sind fröhliche oder lachende Menschen eher rar, aber es gibt sie. Und er zeigt so gut wie keine krasse Not. Das Leben ist manchmal einfach, aber auskömmlich. Man denkt an die Romane von John Updike, der das Leben der amerikanischen Mittelschicht so plastisch und anschaulich geschildert hat, als handele es sich um Kodachrome-Aufnahmen. Graffenrieds Bilder sind wie die Romane von John Updike.
Michael von Graffenried: Our Town. Steidl Verlag, 2021. 240 Seiten, 120 Abbildungen, ca. 45 Euro.