Gute Fotografie verleiht Geschichten und Schicksalen einen bildnerisch treffenden Ausdruck. Jordis Antonia Schlösser erzählt vom «Verschwinden». Das gelingt ihr eindrücklich. Aber es ist bei weitem nicht ihr einziges Thema.
Während auf mittleren und höheren politischen Ebenen in Deutschland darüber gestritten wurde und wird, zu welchem Zeitpunkt der Kohleausstieg verbindlich oder zumindest fast verbindlich festgelegt sein soll, verschwinden in der Region um Garzweiler derzeit immer noch Häuser und Dörfer zugunsten der Kohleförderung. Riesige Bagger fressen sich wie «grosse Tiere» voran, und die Einwohner, deren Lebensraum ihnen buchstäblich unter den Füssen weggeschaufelt wird, hören sie immer näher kommen.
Die grosse Politik interessiert sich kaum für dieses Drama, wohl aber Aktivisten vor Ort und Organisationen wie Greenpeace. Derzeit steht der Ort Lützerath im Zentrum der Auseinandersetzungen. Dieser kleine Ort bei Erkelenz hätte nach den Plänen von RWE, den Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerken, im September 2021 vollständig geräumt sein sollen, aber es gibt immer noch hartnäckige Anwohner, die bleiben wollen. Während der Klimakonferenz in Glasgow fand eine Demonstration mit mehreren Tausend Teilnehmern statt, und es heisst, dass sich die neue Ampel-Koalition in Berlin für den Erhalt von Lützerath und benachbarten Dörfern einsetzen will.
Jordis Antonia Schlösser, geboren 1967 in Göttingen, hat sich schon als ganz junge Fotografin für die Vorgänge um den Braunkohletagebau um Garzweiler interessiert. Wieder und wieder besuchte sie diese «Mondlandschaft» für ihr Langzeitprojekt «Der Abgrund, der mal Heimat war». 2002 wurde sie von der NZZ mit einer Reportage beauftragt. Und derzeit werden ihre Fotos in Lützerath ausgestellt.
In den Anfangszeiten konnte sie unbehelligt auf dem Gelände fotografieren. Jetzt ist das kaum noch möglich, weil der Werkschutz von RWE nach kürzester Zeit auftaucht. Die Stimmung ist inzwischen ganz anders als früher. Zunächst, so erzählt Schlösser, war RWE regelrecht stolz auf das gewaltige Projekt mit den riesigen Baggern, die dem neuesten Stand der Technik entsprechen. Für Besucher wurden Aussichtstürme und Ausstellungsräume errichtet. Die ursprüngliche Begeisterung ist aber zunehmender Gereiztheit gewichen.
Was aus den Bildern von Schlösser spricht, sind die Stimmungen und Empfindungen der Menschen, deren Lebenswelt verschwand oder gerade im Verschwinden begriffen ist. Ihre Bilder erweisen, wie präzise und feinfühlig die Fotografin beobachtet, und sie erfasst die abgrundtiefe Tristesse, die auf allem lastet. Man beginnt zu fühlen, was es heisst, wenn ein Lebensraum zugunsten eines als höher angesehenen Zwecks geopfert wird.
Von aussen betrachtet stellt man sich vor, dass die Frontlinien klar sind: hier die bedrohten oder schon vertriebenen Ansässigen, dort die technokratischen Eindringlinge. Schlösser hat in vielen Gesprächen erfahren, dass die Dinge komplizierter liegen. Denn RWE macht Angebote, kauft Häuser und Grundstücke. Wer greift als Erster zu und nutzt die Gunst der Stunde? Wer zieht den Kürzeren, indem er zu lange wartet und sein Eigentum nun drastisch an Wert einbüsst? Da zerbrechen vertraute Gemeinschaften.
Jordis Antonia Schlösser hat dafür auch deswegen einen Blick, weil sie vor ihrer Entscheidung, sich endgültig der Fotografie zuzuwenden, eine Zeitlang Soziologie und Ethnologie belegt hat. In ihrem darauf folgenden Studium der Fotografie bei Arno Fischer in Dortmund lernte sie, dass ein gutes Foto mehr ist als die oberflächliche Abbildung eines x-beliebigen Zustands oder Vorgangs. Ein Foto hat ein Vorher und Nachher und es ergibt erst dann einen Sinn, wenn es diese Verwobenheit in einem Kontext erfasst. Überflüssig zu sagen, dass sich dieser spezielle Blick verfeinern, aber nicht grundlegend erlernen lässt.
Ihrer Ausbildung bei Arno Fischer verdankt Schlösser auch die Verbindung zu «OSTKREUZ -Agentur der Fotografen». Schaut man sich dort auf der Website einzelne Arbeiten von Schlösser an, dann überrascht die Themenvielfalt. Sie ist viel gereist, und ihre Fotos erschienen unter anderem in Geo, Stern, National Geographic und im Spiegel. Einige ihrer Arbeiten wurden ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem «World Press Photo Award».
Perfekte Kompositionen
Gibt es in der Vielfalt etwas Verbindendes? Zunächst ist da die Fähigkeit, intuitiv Situationen so zu erfassen, als würde Jordis Antonia Schlösser vorhersehen, was in den nächsten Sekunden passieren wird: vielsagende Gesten, Blicke, Interaktionen. Immer wieder stösst man auf Aufnahmen, in denen derartige Pointen zu perfekt komponierten Bildern geworden sind.
Zudem sind viele ihrer Arbeiten sichtlich geprägt von ihrer inneren Haltung. Bei den Fotos zum Thema «Kulturelle Vielfalt», die sie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung aufgenommen hat, spürt man das positive Engagement. Und beim Thema «Luxus» in der Serie «24 Karat West» zeigt sich sehr deutlich die Ambivalenz. Schlösser ist zwar meilenweit von der Gehässigkeit eines Martin Parr entfernt, aber man spürt, wie sehr sie dieses Segment unserer Lebenswelt mit Fragezeichen versieht. Es gehört zu uns, wir begehren es vielleicht, aber wie gültig ist es?
In ihren Fotos – für Aufträge oder in ihren Langzeitprojekten – konzentriert sie sich auf Menschen in ihrer sozialen Realität. Sie lässt den Betrachter in unterschiedlichste Lebenswelten eintauchen, sei in es ein Leben im Kaufrausch, im Konferenzraum oder im Kohlerevier. Und sie möchte, dass die Betrachter auch die Fragezeichen in ihren Bildern wahrnehmen.