Die Vielzahl der Bilder erzeugt allgegenwärtigen optischen Lärm. Der Fotograf Mat Hennek schirmt sich gegen diesen Einfluss ab. Er sucht in der Natur, aber auch in Städten, nach Formen und Mustern, die sich erst in der Stille offenbaren. Im Inneren ahnt er, wonach er sucht. Er geht einen spiritueller Weg.
Im Göttinger Steidl Verlag sind bislang zwei Bände von Mat Hennek erschienen: «Woodlands» 2017 und «Silent Cities» 2020. Als ich Hennek bitte, für unser Gespräch als Ausgangspunkt ein Bild auszusuchen, wählt er zu meiner Überraschung «Chiemsee» von 2003, das in keinem der beiden Bände enthalten ist. Dieses Bild unterscheidet sich auch kompositorisch von den Fotos bei Steidl, aber Mat Hennek kann daran gut erklären, was ihn nun schon seit längerer Zeit bewegt:
Der Chiemsee ist ein gängiges fotografisches Motiv, und wenn er an den Chiemsee dachte, blitzten immer diese allseits bekannten Bilder auf. Er fragte sich aber, wie es ihm gelingen könne, in einem Bild das zum Ausdruck zu bringen, was er ganz persönlich beim Chiemsee empfindet. Das ist ihm über mehrere Jahre nicht gelungen. Eines Tages hat er seinen Vater, der am Chiemsee wohnte, gefragt, ob er nicht einen Standort kenne, von dem aus sich zeige, was sie beide beim Chiemsee empfinden. Nach vielen weiteren vergeblichen Versuchen gab es diesen frühen Morgen, an dem sich alles fügte.
Innere Bereitschaft
Im Blick auf das Bild «Chiemsee» und auf seine weiteren Arbeiten dieser Art erklärt Hennek, «dass man sich komplett lösen muss, Ballast abwirft, sich frei macht, sich ganz hingibt auf eine undefinierte Reise und dann sieht und spürt, was vor Ort passieren kann, es dann zulässt – wenn man bereit dazu ist. Das klingt sehr esoterisch, aber genau so sind die Woodlands und die City-Scapes entstanden.» Bilder dieser Art sind für Hennek «Dokumente der Reise, auf die man sich einlassen muss. Dazu braucht es viel Geduld.»
Nach seinen Anfängen in seiner Jugend als begeisterter Amateur hat Mat Hennek sehr zielstrebig und erfolgreich seine Karriere als Fotograf aufgebaut und vorangetrieben. Er liess sich an der «Europäischen Akademie für bildende Kunst» in Trier und im «Lette-Verein» in Berlin ausbilden. Zudem gewann er praktische Erfahrungen als Assistent von bekannten Fotografen. In Berlin errichtete er ein eigenes Fotostudio. Als begeisterten Musiker lag es für ihn nahe, bekannte Interpreten, aber auch Bands zu fotografieren. Einige seiner Bilder wurden zu Coverfotos von Schallplatten. Auch in der Werbung und der Modefotografie war er mit seinen Fotos erfolgreich.
Anfang der 1990er Jahre war die Zeit der grossen Studios bei den Musikproduktionen, der technische Aufwand war enorm, und das Treiben rundherum muss wohl regelrecht gebrummt haben. Und Hennek mittendrin. Aber er erzählt, dass er damals schon eine wichtige Festlegung getroffen hat: Er beschränkte sich auf das Format 6x6 cm mit einer Hasselblad-Kamera und auf ein 80mm-Objektiv, weil das dem menschlichen Blickwinkel am besten entspricht. Alle Bilder der «Woodlands» entstanden in diesem Format mit diesem Objektiv. Deswegen, so Hennek, «funktionieren» diese Bilder, kommen also direkt beim Betrachter an, denn sie entsprechen seiner natürlichen Perspektive.
Nähe und Resonanz
Auf seiner Website kann man einige seiner Musikerporträts sehen, zum Beispiel von Tracy Chapman, Sting und Claudio Abbado. Aber das sind nun keineswegs die üblichen Porträts. In diesen Bildern steckt viel mehr, und ich frage Mat Hennek, ob nicht auch schon bei den Porträts, die seit Anfang der 1990er Jahre entstanden, Prozesse der inneren Nähe und der Resonanz eine Rolle gespielt haben, die für seine weitere Entwicklung prägend geworden sind.
Er sieht das genau so und erzählt, wie er hin und wieder aus dem hektischen Getriebe während der Musikaufnahmen oder auch den Fotostudios der grossen Produktionsfirmen ausgebrochen sei, um in einer anderen Atmosphäre zu authentischen Fotos zu gelangen. So habe er zu Sting während der Produktion gesagt, dass er unter diesen Bedingungen kein gutes Foto machen könne. «O.K.», meinte Sting, «dann gehen wir eben zu mir nach Hause.» Da entstanden dann die Atmosphäre und die innere Nähe, die das Foto ermöglichten, das auch weit mehr ist als ein übliches Porträt. Aber es gab auch Fälle bei anderen Aufträgen, in denen sich keine Nähe herstellen liess und am Ende nicht das bestellte Foto geliefert werden konnte.
Hat Mat Hennek bei den Auftragsarbeiten für die Porträts viele Bilder aufgenommen, um damit auf der sicheren Seite zu sein? Manchmal habe er wie bei Sting nur fünf oder sechs Bilder gemacht, und bei Tracy Chapman habe er sogar direkt an einem Negativ – insgesamt gab es nur fünf – etwa eine Woche gearbeitet, bis er die gewünschten Effekte erzielt habe. Dazu betont Hennek, dass er meistens seine Filme selbst entwickelt und die Bilder – auch in Farbe – selbst kopiert habe. Das Handwerk beherrscht er souverän.
Das Prinzip, jeweils nur sehr wenige Aufnahmen zu machen, gilt auch bei den Wanderungen durch die Wälder. Für die Bilder, meist mittig ohne Himmel oder Boden, wählt er einen leicht erhöhten Standpunkt, was nicht immer einfach ist. Und es kann sein, dass er gerade dann, wenn ihm ein Motiv, eine Struktur, oder wie Hennek sagt: «die Architektur der Bäume» besonders nahe kommt, sich eine «Evidenz» einstellt und er gar kein Foto aufnimmt. Das ist ein Moment der Intimität, den er für sich behalten möchte. Allein über diesen Punkt liesse sich lange meditieren, und Hennek sagt selbst, dass er über seinen spirituellen Weg nicht nur in den «Woodlands» ein ganzes Buch schreiben könnte.
Menschenleere Räume
Gibt es ähnliche Momente auch bei den Bildern von «Silent Cities»? Zunächst, sagt Hennek, habe er gar nicht an eine Publikation gedacht. Auf seinen Reisen sei er, wenn keine Termine anstanden, durch die Städte gestreift, ohne sich an touristischen oder anderen herausgehobenen Merkmalen zu orientieren. Er habe sich «frei und losgelöst» gefühlt, und seine Eindrücke wurden mit der Zeit immer intensiver. Seine Fotos machte er in diesem Fall mit einer handlichen digitalen Kleinbildkamera. Nach etwa zwei Jahren sichtete er seine Bilder und stellte fest, dass auch sie einen kraftvollen Zusammenhang ergaben. So kam es zur Publikation bei Steidl. Seine Menschenscheu zeigt sich darin, dass die Fotos bis auf ganz wenige Ausnahmen absolut menschenleer sind.
Mat Hennek ist jetzt 52 Jahre alt, und er blickt auf die Jahre seiner kommerziellen Fotografie wie auf eine längst vergangene Zeit zurück. Damals hat er seinen internationalen Ruf begründet und er hat dabei auch sehr gut verdient. Aber es war ihm alles zu turbulent und zu hektisch – oder besser gesagt: zu laut. Denn er ist ein eher introvertierter Mensch. Jetzt konzentriert er sich ganz auf seine Wanderungen durch die Wälder und auf andere Motive, wie die Städte, die er ebenfalls stundenlang allein durchwandert und die er zumeist ohne Menschen fotografiert.
Pläne und Projekte
Hennek ist zwar introvertiert, aber nicht einsam. Speziell seine Arbeiten in den Wäldern stehen in engem Zusammenhang mit seiner Lebensgefährtin, der Pianistin Hélène Grimaud. Sie leben in New York und Kalifornien und haben dort Ateliers, in denen sie gemeinsam arbeiten. Schon jetzt wählt Hélène Grimaud für eine geplante Publikation bei Steidl Bilder aus und verfasst dazu eigene Texte.
Einzelne Bilder von den Wäldern hat Hennek auf bis zu 2 mal 2 Meter vergrössert, was einen «eigenen Sog» erzeugt. Sie bilden den Hintergrund bei einigen musikalischen Auftritten von Hélène Grimaud. Zum Teil arbeiten sie auch mit Bildabfolgen auf LED-Screens, die mit ihren Musikstücken synchronisiert sind. Es gibt auch eine gemeinsame DVD.
Im Laufe dieses Jahres soll bei Steidl ein neuer Band, diesmal zum Thema Wasser, erscheinen. Für Hennek ist die Zusammenarbeit mit Gerhard Steidl eine weitere Inspirationsquelle. Da haben sich zwei kompromisslose Kreative gesucht und gefunden. Hennek betont, wie gut Gerhard Steidl seine Intentionen aufnimmt, dass sie «dieselbe Wellenlänge» haben und wie einzigartig die Tage sind, an denen sie gemeinsam in Göttingen an einem neuen Band arbeiten. Wer wie Mat Hennek zu einer solchen Intensität fähig ist und sie erlebt, ist verständlicher Weise eher reserviert bei Begegnungen, die nur an der Oberfläche bleiben.