Als ich zum ersten Mal Bilder von Andreas Herzau sah, war mein spontaner Eindruck, dass dieser Fotograf viel denkt. Nicht, dass andere Fotografinnen und Fotografen nicht «denken» würden, aber bei Herzau gibt es ein schwer greifbares intellektuelles Etwas in den Bildern. Da steht ein analytischer Verstand hinter der Kamera.
Aber auf seiner Website lese ich, dass er an einem Tag zum Beispiel bei den Bamberger Symphonikern bis zu tausend Belichtungen macht. Wie kann ich das verstehen? Wir sprechen darüber, dass Herzau in seinen Anfängen Journalist und Texter war. Und so sagt er, dass die Kamera für ihn so etwas wie ein Notizblock ist. Mit ihr notiert er zahllose Eindrücke. «Ich sammle Dinge ein.» Und es sei doch so, dass man als Journalist oder als Autor stets viel mehr Notizen habe, als man später in seinem eigentlichen Text gebrauchen könne. Das Entscheidende sei die Auswahl, «die hohe Kunst des Weglassens». Dass ihm die Fotos selbst, nach Jahrzehnten als Fotograf, jeweils gelingen, sei für ihn kein spezielles Thema. Da verlässt er sich ganz auf sein Können und seine Routine.
Das klingt einfach, aber das ist es natürlich nicht. Denn um sich Notizen zu machen, braucht man zumindest eine erste Vorstellung davon, was notierenswert ist und was nicht. Wonach sucht der Fotograf? Worauf achtet er besonders? Das ist jeweils von Thema zu Thema unterschiedlich, und manches entwickelt sich erst im Prozess des Fotografierens und späteren Auswählens. Aber es gibt bei Andreas Herzau eine Besonderheit, auf die er wieder und wieder zu sprechen kommt. Die besteht in seinem engen Verhältnis zur Musik. Halb im Scherz sagt er, dass er auch DJ hätte werden können. Also Musik auswählen und präsentieren. Bei den Zusammenstellungen der Bilder geht es ihm nicht nur um inhaltliche Stimmigkeit, sondern auch um «Rhythmen».
Eine Eigenart bei ihm besteht darin, dass er Schwarzweissfotos mit Farbbildern mischt. In Zeiten der analogen Fotografie musste sich Herzau jeweils entscheiden, ob er ein Motiv in Farbe oder Schwarzweiss fotografieren wollte. Entsprechend war er häufig mit zwei Kameragehäusen unterwegs. Heute ist das einfacher, denn die Entscheidungen können nachträglich fallen. Als erfahrenem Fotografen ist Herzau meistens schon bei der Aufnahme klar, ob das Bild später in Farbe oder Schwarzweiss erscheinen wird. Das spielt wiederum schon bei der Aufnahme eine Rolle.
Mit der digitalen Fotografie hat er begonnen, als ihn die Bildqualität hinreichend überzeugt hatte. Das war ungefähr vor fünfzehn Jahren. Aber schon vorher habe er den Autofokus als eine grosse Erleichterung bei der täglichen Arbeit empfunden. Dabei, so vermute ich, dürften auch Zoom-Objektive eine Rolle gespielt haben.
Auswahlprozesse
Zoom-Objektive, entgegnet Herzau, habe er nie verwendet. Für ihn sei es ganz entscheidend, sich zum Beispiel auf den Bildwinkel eines 50-mm-Objektivs einzustellen. Es sei zu einfach, sich mittels Zoom immer den Bildausschnitt auszusuchen, der einem vom jeweiligen Standpunkt aus optimal erscheine. «Zoom-Objektive sind der Tod der Bildgestaltung.» Es sei «eine kreative Herausforderung», entsprechend dem jeweils gewählten Objektiv den passenden Blickwinkel zu finden. Dabei bleibt vieles weg, anderes wird hervorgehoben. Das ist das Resultat eines Auswahlprozesses im Akt des Fotografierens. Dieser Auswahlprozess in der Aufnahmesituation «ist weitaus unbequemer als das Drehen am Zoom-Objektiv».
Wie komplex die Überlegungen vor Ort werden können, erklärt Andreas Herzau an seinen Bildern, die er in New York angefertigt hat. Die ersten Bilder entstanden noch vor dem 11. September 2001. Im Jahr zuvor war er von der Zeitschrift ART zu einer öffentlichen Diskussion mit dem Magnum-Fotografen Gilles Peress nach New York eingeladen worden.
Die freien Tage nutzte er zum Fotografieren in Schwarzweiss, wobei er sich die Frage stellte, wie er fotografieren müsse, um nicht nur das zu wiederholen, was es von der «meistfotografierten Stadt der Welt» ohnehin schon an Fotos gibt. Etwas allzu Bekanntes neu sehen: So liesse sich die Herausforderung zuspitzen. Nach den Anschlägen ging es ihm darum, die «Verunsicherung» zum Ausdruck zu bringen. Ground Zero sei, wie er sagt, ein «Massengrab mitten in der Stadt». Ein Trauma, wie er es ähnlich 1995 in Ruanda dokumentiert habe. Aber diesmal ist das Trauma «in unserer Welt, nicht irgendwo in Afrika». Die Bilder nach den Anschlägen entstanden grösstenteils in Farbe. Dieses Gestaltungsmittel erschien ihm jetzt angemessen.
In einem Bildband hat er Bilder von New York vor den Anschlägen mit denen danach kombiniert. Erst die Legenden am Ende des Bandes verraten etwas über die jeweiligen Aufnahmedaten. Herzau sieht seine Bilder von New York unter der Signatur der «Verunsicherung». «Die Selbstverständlichkeit der Stadt ist verloren gegangen.»
Hier zeigt sich einmal mehr der Sinn der nachträglichen Auslese und Komposition: Da fügt sich zusammen, was vorher wohl nur intuitiv fotografierbar war. Diese Verschränkung von vorher bei den Aufnahmen und nachher bei den Zusammenstellungen oder besser: gestalterischen Kompositionen ist bei Herzau wohl der Schlüssel zum Verständnis seiner Arbeiten.
Aber man muss noch mehr sagen. Ein guter Journalist – auch ein Fotograf – begnügt sich nicht damit, das Offensichtliche wiederzugeben. Er möchte hinter die Dinge sehen und damit etwas sichtbar machen, was zunächst unsichtbar war. Seit Jahren begibt sich Andreas Herzau auf ein Feld, das sich zum Fotografieren kaum eignet: die Musik. Regelmässig begleitet er die Bamberger Symphoniker und führt darüber ein fotografisches Tagebuch.
Bilder von Musikern, besonders von Stars, sind seit jeher ein grosses Thema der Fotografie. Betrachtet man die Fotos von Solisten, Dirigenten oder Popstars, so drängt sich leicht der Eindruck auf, dass da wohl kalkulierte Gesten mit den gewünschten Eindrücken wiedergegeben worden sind. Daran ist nichts zu kritisieren, profitieren doch Musiker und Fotografen von dem stillschweigenden Übereinkommen. Aber wenn man wie Herzau mehrfach und über längere Zeit ein Orchester begleitet, kann sich die Arbeit des Fotografen in den Starfotos nicht erschöpfen. Dann geht es um etwas anderes. Er selbst spricht von seiner «inneren Leidenschaft» für die Musik.
Das Unsichtbare
Herzau bemerkt trocken, dass die Auftritte von Orchestern optisch nicht viel hergeben. Sie betreten im schwarzen Frack die Bühne oder den Orchestergraben, setzen sich hin, spielen, empfangen den Beifall und gehen. Sensationelle Perspektiven ergeben sich daraus nicht. Will man fotografisch von Musik erzählen, will man die Musiker in ihrer Hingabe fotografisch verstehen, dann sind eine spezielle Zuwendung und Intuition gefragt. Dann muss etwas mitschwingen. Da müssen sich im übertragenen Sinne Harmonien ergeben. Doch Andreas Herzau fragt, ob es letztlich nicht ein «vergeblicher Versuch» sei, das Unsichtbare der Musik sichtbar zu machen. Aber annäherungsweise scheint es ihm zu gelingen, und das Orchester dankt es ihm, indem es ihn wieder und wieder zu seinen Tourneen einlädt. Er sei, so sagt er, zum «Hausfotografen der Bamberger Symphoniker» geworden.
Auch an anderer Stelle hat Andreas Herzau seinen Blick für das, was eher die Aura als das Geschehen selbst ausmacht, erprobt. Als anerkannter Reportage- und Porträtfotograf hatte er wiederholt im Auftrag der CDU Angela Merkel bei ihren Auftritten begleitet. Doch dann kam ihm die Idee, einmal die Szenerien ins Bild zu setzen, die sich um ihre Auftritte herum ergeben. Die Leitfrage dabei war, wie sich der Umstand fotografisch ausdrücken liess, dass Angela Merkel die erste Frau in diesem höchsten politischen Amt Deutschlands ist – und dabei noch «extrem uneitel». Wie fotografiert man das? Ein formales Mittel dazu war, das übliche Querformat der Bilder in der Mitte zu teilen und zu schauen, welche Effekte sich dabei ergeben. Herzau selbst spricht in diesem Zusammenhang von «Dekonstruktion».
Man kann in der Suche nach dem nicht Augenfälligen ein Leitmotiv bei Andreas Herzau erkennen. Immer wieder versucht er, einem Thema Perspektiven abzugewinnen, die es in ein anderes als das bekannte Licht rücken. So war er ganz bewusst nach dem Bürgerkrieg wieder in Liberia, um den sensationellen Schreckensbildern vom Bürgerkrieg die eher stilleren Zeichen einer sich erholenden friedlicheren Gesellschaft entgegenzusetzen.
Herzau ist thematisch ein vielseitiger Fotograf, aber man wird kaum reine Landschaftsfotos finden, eher «Stadtlandschaften». Er konzentriert sich auf den von Menschen geprägten Kontext: «Ich beschäftige mich mit der gesellschaftlichen Realität.»
In diesem Zusammenhang stehen auch seine Bilder aus der Schweiz, die er im Band «Helvetica» veröffentlich hat. Herzau war aus privaten Gründen häufiger in der Schweiz. Zunächst beeindruckte ihn natürlich das «Perfekte» und «Geregelte» der Schweiz. Aber was steckt hinter diesen Kulissen? Er nahm einen «ironisch-kritischen» Blickwinkel ein. Motiviert wurde er dabei auch durch die Erfahrung, dass in einigen Kantonen der Schweiz zwar Deutsch gesprochen wird, sich aber hinter dieser scheinbaren Gleichheit sehr unterschiedliche Mentalitäten verbergen. Die Schweiz ist etwas anderes als eine zusätzliche deutsche Landschaft.
Um diesen Unterschied zu betonen, hat er seinen Bildern Gedichte von Nora und Eugen Gomringer auf Schweizerdeutsch beigefügt. Für Deutsche seien diese Gedichte nicht verständlich. Eugen Gomringer hat diesen Texten bewusst eine eigenwillige Gestalt gegeben, was wiederum dem gelernten Typografen und Schriftsetzer Herzau besonders gut gefallen hat. Denn er überschreitet selbst die Grenzen reiner Bildsprache. Und er denkt viel darüber nach – auch als Lehrender an der Universität.
Andreas Herzau bietet eine reichhaltige Website
Eine gute CV findet sich bei Nimbus. Kunst und Bücher
Die neueste Ausgabe des Tagebuchs mit den Bamberger Symphonikern: Bamberg Diary #2, Nimbus Verlag 2021