Zur Jubiläumsausgabe musste es etwas Spektakuläres sein. Also wird der Aufstieg zum Wintersportort L' Alpe d'Huez mit den berühmten 21 Kehren in diesem Jahr gleich zweimal hintereinander gefahren, die Schlussetappe in Paris kommt erst am Abend an, um der Lichterstadt alle Ehre zu machen. Man hat 110 Jahre nach der ersten Tour de France – in den zehn Jahren des 1. und 2. Weltkriegs musste die Tour aussetzen - erstmals die Mittelmeerinsel Korsika mit ins Programm genommen, mit ihren kleinen, kurvenreichen, verwinkelten Strassen, über die sich zu Beginn von Portovecchio aus 3 Tage lang die Kleinstadt Tour de France mit ihren rund 4 500 Einwohnern dahinschleppt.
Weil die Touristeninsel aber nicht über genügend Hotelkapazitäten nahe der Start- und Zielorte verfügt, hat man die 2300 Journalisten von rund 700 Medien für die dreitägige korsische Ouverture kurzerhand auf ein riesiges Passagierschiff verfrachtet .
12 Kilometer lange Werbekarawane
Vorneweg quält sich bei jeder Etappe die über 12 Kilometer verteilte, grell schimmernde und schrecklich laute Werbekarawane, in der rund 600 Menschen den Tag lang damit beschäftigt sind, wie bei Karnevalsumzügen am Rhein abertausende Objekte unter die dicht gedrängten Zuschauer am Strassenrand zu werfen.
40 Prozent dieser Zuschauer kommen angeblich hauptsächlich wegen der Werbekarawane. Kein Wunder, dass sich die Sponsoren um die Plätze im Werbetross regelrecht reissen, um vor der Sport-Show ihre eigene Show zu veranstalten.
Die Ursprünge
Im Grunde ging es bei der Tour von Anfang an zunächst um Werbung und Kommunikation. Um die Auflage seiner Sportzeitung „L'Auto“ zu steigern und gegen seinen grössten Konkurrenten „Le Vélo“ bestehen zu können, musste sich der Gründer der Tour de France, der nationalistisch gesinnte, streng konservative Henri Desgranges, etwas einfallen lassen. „Le Vélo“, der Konkurrent, veranstaltete damals bereits seit mehreren Jahren Radrennen und hatte damit grossen Erfolg. Ein junger Mitarbeiter von Desgranges hatte eines Tages bei einem Kaffee die Idee, ein mehrere Wochen dauerndes Etappenrennen durch das Land zu veranstalten - und der Plan sollte tatsächlich aufgehen. Dank der ersten Frankreichrundfahrt hatte sich die Auflage von „L'Auto“ im Jahr 1903 verdreifacht und der Konkurrent musste schon im Jahr darauf sein Erscheinen einstellen.
Wenige Jahre später tauchten die ersten Sponsoren auf – einer der Tourgewinner warb damals für eine Buttermarke aus der Bretagne. 1929 waren erstmals drei Autobusse im Tross mit dabei und rührten die Werbetrommel für Schuhcrème der Marke „Lion Noir“, für die Wecker aus dem Haus Bayard und für Schokolade der Firma Menier. Der Erfolg war so gross, dass im Jahr darauf schon mehrere Tonnen Schokolade entlang der Strecke verteilt wurden und den Fahrern und Begleitern reichte man auf den Passhöhen heisse Schokolade.
Der Mythos
Auch solche und eine Vielzahl anderer Geschichten haben dazu geführt, dass die Tour de France im Lauf der Jahrzehnte weit mehr geworden ist als nur ein Radrennen. Sie ist ein Mythos und - wie etwa das Chanson - ein unumstössliches Stück französischen Kulturguts, ein gewaltiger Baustein in der kollektiven Erinnerung der Nation. Sie wurde in Dutzenden von Chansons besungen, fand Eingang in die Literatur - bei Colette, Marcel Aymé und Louis Aragon zum Beispiel - ja selbst von Philosophen wie Roland Barthes wurde sie thematisiert. Und allein zu dieser Jubiläumsausgabe sind über zwei Dutzend neue Bücher über die Tour de France erschienen.
Zur Herausbildung dieses Mythos haben viele Elemente beigetragen. In den zehn Jahren vor dem 1. Weltkrieg hatte die Tour, deren Streckenführung bewusst einen Kreis rund um Frankreich beschrieb, unter anderem auch einen Gemeinschaft stiftenden, nationalen Charakter. Einige Jahre lang erreichte sie damals im Osten sogar die berühmte blaue Linie der Vogesen und querte das von Deutschland annektierte Elsass und Lothringen, bis Kaiser Wilhelm die Brisanz und Symbolik dieser Geste erkannte und den Ausritt untersagte.
Es gab zu jener Zeit auch ein Buch in Frankreich, das nach der Niederlage 1870 von einer ganzen Generation junger Franzosen in der Schule millionenfach gelesen worden war. Sein Titel: «Le Tour de France de deux enfants». Es erzählte mit patriotischem Grundton die Geschichte eines armen Geschwisterpaars aus dem annektierten Lothringen, das sich nach dem Tod des Vaters bei der Suche nach einem Onkel auf den Weg durch Frankreichs Provinzen begibt.
Die Duelle am Berg
Ganz gewaltig zum Mythos beigetragen haben mit Sicherheit die heroischen Bergetappen samt der sich um sie rankenden Geschichten. 1906 fuhr das Peloton in den Vogesen erstmals über den Ballon d'Alsace, 1910 dann in den Pyrenäen über den legendären Tourmalet - unter derartigen Bedingungen, dass der spätere Sieger dieser Tour die Organisatoren lauthals als Mörder beschimpfte, was die nicht davon abhielt, die Fahrer im Jahr darauf über den ersten Alpenpass zu schicken, den 2645 Meter hohen Galibier. Nebenbei bemerkt: Es gab keine Gangschaltungen und die Passstrassen waren aus Schotter.
Gerade an den Bergpässen kam es immer wieder zu legendären Duellen zwischen zwei Kontrahenten, die manchmal sogar für zwei verschiedene Lebenseinstellungen oder gar politische Haltungen standen. Gino Bartali und Fausto Coppi haben Jahre lang das Nachkriegsitalien in zwei Lager gespalten – Gino, der Strenggläubige, der Papst Pius XII zu seinen Fans zählte und den der Regierungschef de Gasperi 1948 nach dem Attentat auf den Vorsitzenden der Kommunisten, Palmiro Togliatti, angerufen haben soll mit den Worten: «Gino, du musst die Tour gewinnen, damit die Menschen sich wieder beruhigen. Sein Konkurrent, Fausto Coppi, sorgte derweil im katholischen Italien mit seiner Geliebten, der berühmten weissen Dame, für Skandal.
Anquetil gegen Poulidor
In der 60-ern lieferten sich dann zwei Franzosen jahrelang umwerfende Duelle. Jacques Anquetil, der für Eleganz, Modernität und das urbane Frankreich stand, gegen den ewigen Zweiten, Raymond Poulidor, das Inbild des bodenständig-bäuerlichen Frankreich. Manche meinen, es sei bezeichnend für das französische Gemüt, den mangelnden Ehrgeiz und fehlenden Killerinstinkt in einer globalisierten Welt, dass ausgerechnet der ewige Zweite, Raymond Poulidor, dem sie den Kosenamen Poupou gegeben hatten, damals schon die mit Abstand populärste Radsportlegende des Landes war und es bis zum heutigen Tag geblieben ist. Wenige Tage, bevor der fünfmalige Tour Gewinner, Jacques Anquetil, sehr früh verstarb, rief der seinen alten Konkurrenten Poulidor an und flüsterte ihm zu: «Poupou, du hast wirklich kein Glück. Auch jetzt wirst Du wieder Zweiter werden.«
Tour-Direktor Prudhomme sagte jüngst über das Phänomen der Frankreichrundfahrt : «Sie ist nun mal seit Beginn des letzten Jahrhunderts präsent in diesem Land, nur Kriege haben sie aufhalten können. Sie ist einfach sehr, sehr tief im Land verwurzelt dank ihrer sportlichen, touristischen, ästhetischen und auch sozialen Tugenden.»
Die Anfänge der Betrügereien
Doch von Anfang an fuhr im Peloton auch schon der Betrug mit. Bereits bei der zweiten Ausgabe 1904, als die Fahrer noch von wütenden Bauern, die ihr Territorium verletzt sahen, mit Mistgabeln empfangen wurden, schloss man einige Teilnehmer aus, weil sie unerlaubte Absprachen getroffen hatten oder ein Stück weit mit dem Zug gefahren waren. Die Konkurrenten steckten einander Juckpulver in die Hosen, Nägel wurden auf die Strassen gestreut oder dem Führenden eine Flasche mit vergiftetem Wasser gereicht, worauf er ein paar Stunden im Strassengraben schlief, dann aber die Etappe letztlich doch noch zu Ende fuhr.
1924 schon hatte der grosse Journalist und Schriftsteller Albert Londres in seiner legendären Reportage mit dem Titel „Die Sträflinge der Landstrasse“ erstmals Doping zum Thema gemacht, als er über drei Fahrer berichtete, die in den Pyrenäen gerade unter Protest die Tour verlassen hatten, weil die Organisatoren kontrollieren wollten, ob einer zum Schutz gegen die Kälte ein zweites Trikot angezogen hatte. Das war nämlich verboten.
„Wir sind keine Hunde“, schimpfte Henri Pélissier, und dann legten die drei los. „Die Tour ist ein Kreuzweg“, sagte Henri. „Kennen Sie unseren Treibstoff?“ Er langte in seine Tasche. „Das ist Kokain für die Augen. Das ist Chloroform für das Zahnfleisch.“ Ville zeigte eine Salbe, mit der er seine Knie wärmte. „Und die Pillen? Wollen Sie die Pillen sehen? Hier sind sie.“ Jeder holte drei Packungen heraus. „Wir laufen mit Dynamit“, schrie Francis. Das Fleisch halte nicht mehr auf ihren Skeletten, und die Fussnägel fielen ihnen ab, klagten sie. Im Hotelzimmer führten sie Veitstänze auf vor Schmerzen, sie würden leer vom Durchfall. „Wir tanzen eine Gigue, statt zu schlafen“, sagte Henri. Aber das alles, sagten sie, seien sie bereit hinzunehmen. „Wir akzeptieren die Marter - aber keine Demütigung.“
Vom handgemachten zum industriellen Doping
Nach dem Zweiten Weltkrieg gestand dann der grosse Jacques Anquetil schon sehr bald offen ein, dass er immer gewisse Mittel genommen habe. Wenn man die Tour de France fahre, könne man sich eben nicht wie ein Buchhalter ernähren.
Seit es dann 1966 die ersten Dopingkontrollen gab, erwischte es auch den Kannibalen, den grossen Eddy Merckx einmal. Der zweifache Tour-Sieger Bernard Thevenet gestand später, dass er kräftig Cortison zu sich genommen hatte, was ihn nicht daran hinderte, ausgerechnet in den 90-er Jahren, als das EPO Doping am Zenith stand, als Co- Kommentator der Tour im französischen Fernsehen zu fungieren.
Ein von der Mannschaft und unter ärztlicher Aufsicht organisiertes Doping mit EPO kam dann 1998 im Rahmen des Festina-Skandals erstmals ans Tageslicht – Frankreichs Publikumsliebling Richard Virenque zog heulend von dannen, ebenso wie der bei Festina gerade frisch verpflichtete Schweizer Alex Zülle. Dann wurde auch noch ein holländisches Team ausgeschlossen, bevor die spanischen Mannschaften, darunter ONCE, mit ihrem skrupellosen Teammanager Manolo Saiz von sich aus das Weite suchten. Am Ende rollten gerade noch 98 von knapp 200 Fahrern über die Ziellinie auf den Pariser Champs-Elysées. Gesamtsieger wurde Marco Pantani, den das Doping direkt in die Drogenabhängigkeit führte – im Alter von 34 starb der Pirat an einer Überdosis, alleine in einem Hotelzimmer in Rimini.
Die Armstrong-Ära
Nach dem Festina-Skandal begann prompt die siebenjährige Armstrong Ära mit inzwischen eingestandener Dopingpraxis, die auch in den Jahren danach kein Ende nehmen sollte. Das grösste Radrennen der Welt befindet sich heute in der grotesken Situation, in den letzten zwei Jahrzehnten praktisch keinen einzigen Gesamtsieger vorweisen zu können, der nicht des Doping verdächtig respektive überführt worden wäre. Eine Untersuchung des Sportwissenschaftlers und Arztes Antoine Vayer, der seit Jahrzehnten die Leistungen der Protagonisten der Tour in Watt misst, legt offen, dass König Miguel (Indurain) bei seinen fünf Gesamtsiegen zwischen 1991 und 95 die höchsten Watt-Werte überhaupt produziert hatte.
Und jetzt, wenige Tage vor Beginn der Jubiläumsausgabe, ist dem französischen Fernsehen auch noch der populäre Co-Kommentator und Ex-Profi Laurent Jalabert abhanden gekommen. Eine Untersuchungskommission des französischen Senats über die Wirksamkeit der Dopingbekämpfung hatte zutage gefördert, dass auch Jalabert, damals im ONCE Team, bei der Skandaltour 1998 positiv auf EPO getestet worden war.
Der fünfmalige Tour-Sieger Bernard Hinault, der seit Ende seiner Karriere vor fast 30 Jahren Angestellter der Tour de France ist, war mit dieser Information sichtlich überfordert und reagierte wütend, allerdings nicht gegen Jalabert. "Das ist doch eine Geschichte von vor 15 Jahren. Man muss aufhören, die Toten auszugraben. Man hat den Eindruck, dass man den Radsport, die Tour de France töten will, selbst vonseiten dieser Senatoren mit ihren Blödheiten", polterte der Bretone.
Da wusste er aber noch nicht, dass sich Lance Armstrong tags darauf per Zeitungsinterview zum Start der Jubiläumstour in Korsika mit den Worten einladen sollte: «Die Tour de France ist ohne Doping nicht zu gewinnen.»
Unternehmen Tour de France
Die Tour bleibt trotz aller Dopingskandale der letzten 20 Jahre aber eine ökonomische Erfolgsgeschichte. Die Sponsoren reissen sich richtiggehend darum, in der Werbekarawane dabei sein zu dürfen und Städte investieren Millionen, um einmal Start oder Zielort der grossen Schleife sein zu dürfen. Die Veranstalterfirma ASO, die zur selben Verlagsgruppe gehört wie die grosse Sportzeitung „L'Equipe“, ist ein florierendes Unternehmen mit geschätzten 150 Millionen Jahresumsatz. Mittlerweile werden die Bilder der Tour in 190 Länder übertragen - zuletzt sind Südkorea und Thailand dazu gekommen – und erreichen 3,5 Milliarden Fernsehzuschauer.
Dementsprechend geht es bei den mehr als 100 Stunden Live-Übertragung bei weitem nicht mehr nur um den Sport, sondern - und die Tour-Organisatoren haben das in der Hochzeit der Dopingepoche in den letzten 15 Jahren auch ganz offen zugegeben - um die Präsentation von Frankreichs Schönheiten. Man liefert der Welt eine Art live ausgestrahlte Dokumentation über ein idealisiertes, landschaftlich faszinierendes, touristisch attraktives und kulturell vielfältiges Frankreich mit einem gewaltigen Touch Nostalgie. Bilder von den Problemvorstädten des Landes und den Hunderten von abgrundtief hässlichen Geschäftsvierteln am Ein – und Ausgang Tausender französischer Kleinstädte haben in diesem televisuellen Epos nichts verloren.
Die Zuschauer werden älter
Und die Veranstalter haben keinerlei Schwierigkeiten der Welt zu beweisen, dass die Tour trotz der mitfahrenden pharmazeutischen Produkte - manchmal sind es auch Mittel, die aus der Pharmazie des Tierarztes stammen – nach wie vor populär ist. Gewiss, die Zahl der französischen Fernsehzuschauer ist von nachmittäglich 5 Millionen vor den Dopingaffären der 90-er Jahre auf inzwischen 3,5 Millionen zurückgegangen und die Mehrheit dieser Fernsehzuschauer ist mittlerweile über 50, was ein gewisses Zukunftsproblem darstellt. Trotzdem werden bis zur Ankunft in Paris in drei Wochen auch dieses Jahr wieder rund 12 Millionen Menschen die Strassenränder der von tausenden Gendarmen gesicherten, 3400 Kilometer langen Strecke bevölkert haben. Mit anderen Worten: Diese Tour de France mag nur noch wenig sportliche Glaubwürdigkeit haben, sie ist aber trotzdem nicht totzukriegen. Wie sagte doch schon Tourdirektor Prudhomme? Nur Kriege könnten sie aufhalten.