Manche Entwicklungen vollziehen sich hierzulande in wirklich atemberaubender Geschwindigkeit. Obligatorischer Dienst für den Staat und die Gesellschaft zivil und im Militär? Undenkbar! Mit einem Mal aber wird wieder über Wehr- und Zivildienst diskutiert.
Hätte in Deutschland vor 15 Monaten irgendjemand die Möglichkeit oder gar Notwendigkeit der Wieder-Aktivierung der Wehrpflicht in den Mund genommen, wäre das von der breiten Öffentlichkeit – im günstigsten Fall – kommentarlos bzw. kopfschüttelnd übergangen worden. Oder das Thema wäre sehr schnell vom Tisch gewischt worden. So wie es hier meistens der Fall war (und ist), wenn man die Auseinandersetzung mit einer schwierigen Frage scheut. Oft genügte dabei schon, irgendeine Verbindung zu den Nazis herzustellen. Wollte in der Vergangenheit etwa jemand über das Für und Wider eines allgemein verpflichtenden Sozialen Jahres für Jugendliche diskutieren, wurde ihm schnell mit dem Totschlagbegriff «Reichsarbeitsdienst» der Mund gestopft.
Kernthema in Talkshows
Inzwischen jedoch ist nicht nur das Thema «Wiederbelebung der Wehrpflicht» Gegenstand ungezählter Talkshows und Journalisten-Fragen an Politiker geworden. Auch die Frage nach Sinn und Unsinn einer für alle geltenden zivilen Dienstpflicht unterliegt keinem Tabu mehr. Sogar Boris Pistorius (SPD), der neue Bundesverteidigungsminister, räumte mittlerweile ein, dass er die 2011 vom damaligen Amtschef Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) veranlasste «Aussetzung» der allgemeinen Wehrpflicht für einen Fehler hält. Pistorius knüpft diese Aussage, klugerweise, nicht an den aktuellen Krieg in der Ukraine, sondern begründet die Erkenntnis mit einem sich über die Jahre tatsächlich hinziehenden gesellschaftspolitischen Vorgang – nämlich mit der zunehmenden Entfremdung zwischen den Streitkräften und der Rest-Bevölkerung.
In der Tat ist die Bundeswehr seit der Wiedervereinigung 1990 einerseits nicht nur von sämtlichen, wie auch immer farblich zusammengesetzten, Regierungen in Bonn und Berlin praktisch kaputtgespart, andererseits jedoch trotzdem mit höchst gefährlichen Auslandseinsätzen über die Massen strapaziert worden. Dadurch indessen, dass sie seit mehr als zehn Jahren nicht mehr immer mit neuen Jahrgängen regelmässig neue Menschen integrieren musste, sank in der Truppe auch die Notwendigkeit, sich ausreichend mit den Strömungen, Entwicklungen und Meinungen auseinanderzusetzen, die eine Gesellschaft erfahrungsgemäss ständig durchziehen. Umgekehrt blieben den Bürgern zunehmend Tendenzen beim Militär und – wie jetzt zu sehen – der erbärmliche Zustand der Armee verborgen. Das ist freilich auch kein Wunder in einem Land, das sich wohlig eingerichtet hat in einer trügerischen Welt, genüsslich die vorgebliche Friedensdividende verzehrt und gemeinsam mit seinen Regierungen auf nahezu jegliche Aussen- und Sicherheitspolitik verzichtet. Und dies praktisch seit drei Jahrzehnten.
Nie besonders anerkannt
Nun hat die Bundeswehr seit ihrem Bestehen in der deutschen Öffentlichkeit nie einen vergleichbar herausgehobenen Stand besessen wie etwa die US-Army in den Vereinigten Staaten oder die britische auf der Insel. Damit haben die Bürger im In- und Ausland ja auch lange gut leben können. Mitunter hatte dieser Zustand sogar groteske Züge angenommen. Noch in den 80er Jahren war nicht selten jenseits der Grenzen zu hören, am liebsten hätte man beim Nato-Partner Deutschland eine Streitmacht nicht grösser als die von Luxemburg, aber trotzdem in der Lage, die Rote Armee in Schach zu halten. So hätte es wohl auch die Mehrheit der Deutschen selbst gern gehabt. Umso freudiger wurde zwischen Rhein und Elbe, Flensburg und Konstanz das Ende des Ost-West-Konflikts, die deutsche Wiedervereinigung und die damit einhergehende Entspannungspolitik in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts begrüsst. Waren wir nicht – erstmals in unserer Geschichte! – umgeben nur von Freunden?
Dass davon auch die allgemeine Wehrpflicht nicht unberührt bleiben konnte, ist eigentlich logisch. Wenn die Zahl der Soldaten um mehr als die Hälfte verringert wird, kann zwangsläufig nicht mehr jeder Dienstpflichtige eingezogen werden. Zwar hatte es immer schon die «Schlauen» gegeben, die sich nach der Schule in die «Schutzzone Berlin» absetzten, während ihre «dämlichen» Altersgenossen in Kampfklamotten durch die Heide robbten. Aber das waren vergleichsweise wenige, so dass die «Wehrgerechtigkeit» im Grossen und Ganzen gewahrt blieb. Davon freilich konnte zu Beginn dieses Jahrhunderts keine Rede mehr sein. Die viel kleiner gewordene Bundeswehr hatte ganz einfach keinen Bedarf und auch keinen Platz mehr für die eigentlich Wehrpflichtigen. Kein Wunder, dass deshalb auch die Freude höchstens geteilt war, wenn die eine Hälfte der Jugendlichen dienen musste, während die andere verdienen konnte. So gesehen war die Aussetzung (nicht Abschaffung) der Wehrpflicht keineswegs allein dem Zeitgeist, sondern auch der realen Situation geschuldet.
Kaum zu bewältigen
Das liesse sich, aussenpolitische Lage und politischer Wille vorausgesetzt, natürlich auch wieder rückgängig machen. Zumindest im Prinzip. Sollten die Bundesrepublik und die Nato sich wirklich verteidigen müssen, wäre ein solcher Schritt sogar unausweichlich. Aber unter den gegenwärtigen Verhältnissen undenkbar. Es wäre allein schon organisatorisch kaum zu bewältigen. Mit den vielen aufgegebenen und inzwischen längst umfunktionierten Kasernen verschwanden die notwendigen Unterkünfte, mit ihnen die Garnisonen, Standorte, Flugplätze. Und da gäbe es ja auch noch ein zweites Gerechtigkeitsproblem, das der Geschlechtergleichheit.
Dass Frauen mittlerweile auch in Deutschland den Soldatenberuf ergreifen können, haben sie sich mühsam erkämpft. Bis zum Gang zum Europäischen Gerichtshof. Der Griff zur Uniform einer Berufsarmee basiert bislang freilich auf der Freiwilligkeit. Da Geschlechter-Gerechtigkeit inzwischen allerdings längst in vielen Bereichen auch der Erwerbstätigkeit gilt (und mit Sicherheit immer weiter gezogen wird), müsste wohl auch die Landesverteidigung mit einbezogen werden. Also: Die Wehrpflicht hätte bei Männern und bei Frauen zu greifen. Gleichwohl: Überlegungen wie diese mögen theoretisch reizvoll sein und sich für strategische Planspiele eignen – in die Wirklichkeit passen sie nicht.
Wer hat wem zu dienen?
Andererseits muss die wieder eröffnete Debatte um den Begriff «Pflicht» ja auch gar nicht auf den militärischen Bereich beschränkt bleiben. Denn das Wort «Gerechtigkeit» greift inhaltlich viel weiter. Nämlich als Ausgleich und Ausgewogenheit des Anspruchs der Gesellschaft (sprich: der Bürger) an den Staat und umgekehrt dessen Forderung an die Gesellschaft. Das führt, gleichsam folgerichtig, zu der ebenfalls (wieder einmal) eröffneten Kontroverse, ob in der Bundesrepublik nicht ein obligatorisches Arbeitsjahr für alle Jugendlichen zugunsten der Allgemeinheit eingeführt werden sollte. Wenn in der Vergangenheit dieses Thema auch nur angesprochen wurde, ist es regelmässig mit dem Totschlagbegriff «Arbeitsdienst» weggefegt worden. Dabei hatte sich bis 2011 gezeigt, wie positiv sich die – allerdings rechtlich mit dem Wehrdienst verknüpfte – Einrichtung eines zivilen Ersatzdiensts entwickelte.
Davon können Feuerwehr, Kliniken, Rettungs- und Sozialdienste im weitesten Sinne berichten. Doch es gibt noch einen wichtigen anderen Aspekt. Wir alle haben uns zunehmend an die Fürsorgepflicht des Staates gewöhnt. Doch ist nicht, um des gesellschaftlichen Gleichgewichts willen, auch eine bürgerliche Bringpflicht angebracht, die über das blosse Bezahlen von Steuern hinausgeht? Eine Bereitschaft, direkt helfend tätig zu werden etwa zugunsten Benachteiligter, Kranker, am Rande des Wohlstands Vegetierender? Etwas zu leisten, was einem gleichzeitig den Blick schärft für das «wahre» Leben? Das hätte alles gar nichts zu tun mit dem vormilitärischen Drill des einstigen Reichsarbeitsdienstes, mit den geschulterten Spaten, mit dem Planieren von Strassentrassen und Trockenlegen von Feuchtgebieten. Nein, es wäre im Grunde die Erfüllung jenes Appells, den der amerikanische Präsident John F. Kennedy einst seinen Landsleuten zurief und der für jeden Besucher sichtbar sein Grab auf dem Friedhof in Arlington ziert: «Frag nicht, was dein Land für Dich tun kann. Sondern frag, was du für dein Land tun kannst.»
«Hat noch keinem geschadet»
Ganz abgesehen von solch hehren Vorstellungen hat die Zeit beim Ersatzdienst vielen bis dahin unentschlossenen Jugendlichen bei der Wahl ihres Studiums oder Lernberufs geholfen. Praktika, Einsichten in das «wirkliche Leben», Entwicklung der eigenen Persönlichkeit durch Konfrontation mit Armut, Diskriminierung oder Krankheit – das sind Erfahrungen, die weit über das gern gebrauchte «hat noch nie jemandem geschadet» hinausgehen. Doch der Gedanke, eine derartige gesellschaftspolitische Verteilung von Gerechtigkeit und gegenseitiger Solidarität könnte hierzulande wirklich eines Tages zur Verpflichtung erhoben werden, ist utopisch und abenteuerlich. Dennoch kann und sollte ernsthaft darüber gestritten werden. Denn dass die einen dienen und die anderen dinieren, kann doch nun wirklich keine Idealvorstellung sein.