Gewiss : André Glucksmann hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten so manchen genervt – auch solche, die ihm wohlgesonnen waren und manchen alten Weggefährten – mit seiner wahrlich penetranten Art, fast pathetisch die immer wieder gleichen, zumeist in Russland angesiedelten Übel unserer Welt zu beklagen und zu verurteilen.
Und doch: Der Schüler von Raymond Aron war im Grunde eine der letzten grossen Stimmen einer Generation von französischen Philosophen, die zumindest bis zur Jahrtausendwende in der Öffentlichkeit Frankreichs noch ein gewisses Gewicht hatten. Und er ist sich, anders als seine ehemaligen Mitstreiter Bernard-Henri Lévy und Alain Finkielkraut, treu geblieben, jedenfalls weit mehr als die beiden Letztgenannten.
Glucksmann ist nicht in dem Mass wie BHL zum Medienintellektuellen verkommen, der sich zudem mit einer ganzen Reihe von Publikationen mehr oder weniger diskreditierte und bei seiner Intervention für die Militärschläge in Libyen eine eher merkwürdige Rolle spielte. Und Glucksmann hat sich, auch wenn er Meinungsbeiträge in den letzten Jahren fast nur noch im konservativen Figaro veröffentlichte, nicht auf das Glatteis begeben, auf dem Alain Finkielkraut nun seit Jahren dahinschlittert, indem er alles Multikulturelle, den Islam und die Globalisierung als etwas absolut Teuflisches geisselt, welches die saubere französische Identität in grösste Gefahren bringen würde. Glucksmanns letztes Werk war nicht zufällig eine Art Ode an Voltaire und das Universelle der Aufklärung.
Wutbürger
Auch in den letzten Jahren nannte man Glucksmann noch den „wütenden Philosophen”, weil er einer war, der sich mit gleichbleibender Vehemenz gegen Unrecht und für die Menschenrechte stark machte. Dies, obschon er sich in den letzten zwei Jahrzehnten vor allem einer Thematik verschrieben hatte: der Kritik am autokratischen System Russlands und an der Politik Vladimir Putins. Kaum eine Stimme erhob sich so laut wie die von André Glucksmann, wenn es darum ging, zum Beispiel die Massaker an den Tschetschenen zu verurteilen. Seine letzten kritischen Interventionen in Frankreich galten der Art und Weise, wie das Land mit Sinti und Roma umgeht.
„Es vibrierte und brannte in ihm”, sagte Frankreichs ehemaliger Kulturminister, Jack Lang, über Gluckmanns Engagements. Er habe sich nicht nach vorne gedrängt, um eine Show abzuziehen, sondern weil er durch seine Person, sein Leben und seine Geschichte regelrecht getrieben gewesen sei, sich gegen jede Form von Diktatur und Unterdrückung aufzulehnen.
Neue Philosophen
Glucksmann war in den siebziger Jahren der Initiator der Gruppe, die man die nouveaux philosophes nennen sollte, die von der extremen Linken, meist vom Maoismus herkamen und fast über Nacht dem Marxismus abschworen. Diese Entwicklung fand in Glucksmanns 1975 erschienenem Buch „Köchin und Menschenfresser – Über die Beziehung zwischen Staat, Marxismus und Konzentrationslager” ihren Niederschlag. Hier zog er auch erste Parallelen zwischen Nazismus und Kommunismus. Dem entsprechend war der Philosoph in siebziger Jahren eine der massgeblichen Personen, die damals die russischen Dissidenten, die die Sowjetunion verlassen konnten, hier in Frankreich aufnahmen. In Glucksmanns Wohnung trafen sie auf algerische Oppositionspolitiker oder Südamerikaner, die vor den Diktaturen jener Jahre ins Exil gegangen waren. Einer seiner damaligen Mitstreiter, der Philosoph Pascal Bruckner, meint:
„André Glucksmann war vor allem derjenige, der der kommunistischen Ideologie in Frankreich den entscheidenden Schlag versetzt hat. Er war der erste, der Solschenizyn empfangen und verstanden hat, was dieser russische Autor über den Gulag schrieb. Er hatte deswegen damals enorm viele Kritiker und Gegner, aber er hat durchgehalten.”
Über Frankreichs Grenzen hinaus wurde Glucksmann 1979 durch sein Engagement für die vietnamesischen Boatpeople bekannt. Es gelang ihm damals, die beiden verfeindeten grossen Philosophen Sartre und Aron dazu zu bewegen, gemeinsam bei Staatspräsident Giscard d'Estaing Druck zu machen, damit Frankreich Hunderttausende dieser Flüchtlinge aufnimmt, was letztlich auch gelang.
In späteren Jahren, seit dem Jugoslawienkrieg, war Glucksmann – alles andere als ein naiver Pazifist – zu einem vehementen und lautstarken Verfechter militärischer Interventionen des Westens geworden, bis hin zu den Militärschlägen gegen Gaddafi in Libyen. 2007 sorgte Glucksmann als anerkannte Figur im Kampf gegen den Totalitarismus dann noch einmal für Aufsehen: Zur Verwunderung vieler unterstützte er Nicoloas Sarkozy im damaligen Präsidentschaftswahlkampf, sagte sich aber nur wenige Jahre später wieder öffentlich von ihm los, unter anderem wegen Sarkozys Diskurs gegenüber den Immigranten und des Verkaufs der französischen Mistral-Kriegsschiffe an Russland.
Nachschlag
Andre Glucksmann, Sohn österreichisch-osteuropäischer Juden und aktiver Kommunisten und Widerstandskämpfer im Exil, war im Pariser Vorort Boulogne-Billancourt geboren worden. Als Fünfjähriger konnte er von seiner Mutter aus einem Zug vor der Deportation in die Konzentrationslager der Nazis gerettet werden, was ihn später zu dem Satz bewegte: „Alles was danach kam, war nur Nachschlag.“ Ein Nachschlag, der mehr als siebzig Jahre eines erfüllten, engagierten und streitbaren Lebens umfassen sollte. Das Leben eines Mannes, von dem Frankreichs Staatspräsident Hollande sagte, er habe in seiner Person sämtliche Dramen des 20. Jahrhunderts vereint.
Raphael Glucksmann, sein 36jähriger Sohn, Essayist und Dokumentarfilmer, der per Facebook den Tod seines Vaters angekündigt hatte, fand die schönen Worte: „Mein erster und mein bester Freund ist nicht mehr. Ich hatte das unglaubliche Glück, einen ebenso guten wie genialen Menschen zu kennen, mit ihm zu lachen, zu debattieren, zu reisen, zu spielen und alles mit ihm zu tun oder auch gar nichts.“