Das Buch zu lesen erweist sich als nicht ganz einfach. Schwer liegt das umfangreiche Werk in den Händen. Beim Blättern irrt das Auge der Leserin, des Lesers über die typografisch kunstvoll gestalteten Seiten, trennt die Fotos von langen und kurzen Texten in verschiedenen Schriften und Schriftgraden, hält sich an eingestreuten Statements oder Fragen auf, schaut nach vorn und nach hinten – konstruiert aus Hunderten von Sprach- und Fotobildern eine Gesamtsicht.
«Das Jahr 1990 freilegen», so heisst das Buch. Jan Wenzel hat es mit einer Gruppe von Mitarbeitenden zusammengestellt und herausgegeben. Mehr als 50 Autorinnen und Autoren werden zitiert. Das Buch erinnert an ein geschichtsträchtiges Jahr in und für Deutschland. Die Erinnerung ist vielstimmig und vielgestaltig, setzt sich aus Texten verschiedener Genres zusammen (Bericht, Reportage, Tagebuch, Reflexion, literarische Prosa), denen die beigefügten, meist schwarzweissen Fotografien zusätzlich eine mächtige Aura verleihen.
Nach dem Mauerfall
1990 ist das Jahr, in dem (nach dem Fall der Mauer im November 1989) die DDR verschwand und Deutschland wiedervereinigt wurde. Das Ereignis wurde in den vergangenen 30 Jahren ausgiebig dokumentiert, analysiert und kommentiert. Dieses Buch gleicht keinem anderen. Es evoziert den Alltag in der BRD, in der DDR im Jahr 1990, es überhöht und reflektiert ihn in essayistischen Beiträgen, stellt ihm literarische Reaktionen, hauptsächlich von Alexander Kluge, zur Seite; es dokumentiert politische Vorgänge, beleuchtet sie aus nächster Nähe und beurteilt sie in zeitlichem Abstand.
Wir lesen uns ein in die umfangreichen Interviews, die mit den Protagonisten der Classe politique geführt wurden, sitzen mit am runden Tisch, an dem mühsam um verbindliche Regeln im Prozess der Wiedervereinigung gerungen wurde – und wir erleben, wie das Tempo rasant zunimmt: was gestern besprochen wurde, hat heute keine Gültigkeit mehr. Während die einen die Wiedervereinigung bejubeln und es nicht fassen können, wie schnell sich eine Utopie verwirklicht, befürchten die anderen eine Übernahme, eine Annexion, eine existentielle Demütigung, Entwicklungen, denen sie machtlos ausgeliefert sein werden.
Brutale Veränderungen
Rund zwei Dutzend Fotografen verleihen dem Jahr 1990 ein Gesicht, porträtieren die Menschen, die es erleben und prägen, Arbeiter, Lehrerinnen, Studenten zeigen sie im Alltag und als Demonstrierende in den Städten, die sich verändern. Diese brutalen Veränderungen, aufgegebene Quartiere, umgepflügte Wohnzonen, verlassene Industriegebiete, vergammelte Häuser, aufgerissene Strassen machen das andere grosse Thema aus.
Neben den kurzen Analysen von Intellektuellen finden sich anschauliche, detaillierte Aufzeichnungen von Journalisten und, besonders ergiebig, tagebuchartige Beobachtungen eines heute verschollenen Autors, der einen förmlich spüren lässt, wie sich das, was man in gebührendem zeitlichem Abstand Geschichte nennen wird, in kleinsten alltäglichen Szenen ereignet.
Spannend und dicht – wo immer man aufschlägt
Das Jahr 1990 wird – nicht sklavisch, aber doch weitgehend – chronologisch freigelegt. Die Chronologie ist so etwas wie ein roter Faden durch die Fülle der Geschichten und Berichte, der Stimmen, die sie erzählen und bewerten. Ein Leitinstrument, an das man sich halten kann. Man muss aber nicht, gehört es doch zu den Vorzügen des Buchs, dass man es irgendwo aufschlagen kann, um in den Strudel der Ereignisse zu tauchen. Jede Seite erweist sich als dicht, spannend gestaltet, egal ob die Buchstaben oder die Bilder dominieren. Jede Seite wirkt als Ganzes und als Fragment zugleich.
Die Freilegung des Jahres 1990 in Deutschland – das bedeutet zum einen die Sichtbarmachung politischer und gesellschaftlicher Prozesse. Zum andern spiegeln sich diese analytischen und theoretischen Inhalte in einer Wirklichkeit, die aus einer Fülle von Einzelschicksalen besteht. Es ist eine vergangene, eine stark fragmentierte, eine unendliche Wirklichkeit, die einem da entgegenkommt; man fühlt sich als Leser bestens in ihr aufgehoben.
Jan Wenzel (Herausgeber): Das Jahr 1990 freilegen. Leipzig: Spector Books.