Der Bundesrat hat mit der jüngsten Verschärfung der Corona-Massnahmen spät, aber richtig entschieden. Nun muss er die Exponierten bei der Stange halten und den Impf-Zögerern Beine machen.
Ab morgen Montag gelten also 2G und Homeoffice. Der Bundesrat hat sich mitten im Sturm der noch immer hochgehenden Delta-Welle und vor dem herannahenden Omikron-Tsunami viel Zeit gelassen für seinen Entscheid. Immerhin hat er in einer mehrtägigen Konsultation von den Kantonen breite Zustimmung für strenge Massnahmen erhalten. Die Kritik der stark davon betroffenen Branchen blieb einigermassen verhalten.
Inzwischen hat London den Notstand ausgerufen. Die Niederlande gehen in einen strengen Lockdown. Mehrere weitere Staaten haben ähnliche Massnahmen getroffen. An vielen Grenzen sind restriktive Einreisebestimmungen in Kraft getreten.
Die Ausgangslage der Schweiz vor der Ankunft der nächsten pandemischen Sturmfront ist im westeuropäischen Vergleich ungünstig. Bereits Anfang November hat Deutschland die Schweiz als Hochrisikogebiet eingestuft. Der Bundesrat hat den durch die Decke gehenden Zahlen von Ansteckungen, Spitaleinweisungen und Todesfällen irritierend lange zugeschaut. Mit den Booster-Impfungen liess man sich Zeit, als andere Länder längst den Vorwärtsgang eingelegt hatten. Nun fehlen auch noch die Kapazitäten für den nötigen Effort beim Boostern.
Diese Gemächlichkeit von Regierung, BAG, Impfkommission und Kantonen hat ihren Preis. Die ganze Bevölkerung wird ihn bezahlen. Den vermutlich höchsten und schmerzhaftesten Tribut aber leisten die Fachkräfte auf den Intensivpflegestationen (IPS). Der Bundesrat hat seine Pandemiepolitik immer damit begründet, es gelte eine Überlastung der IPS zu vermeiden. Auch beim jüngsten Beschluss erinnerte Bundesrat Berset an dieses Prinzip.
Tatsache ist aber, dass auf zahlreichen IPS die Pflegefachleute und das ärztliche Personal seit bald zwei Jahren permanent überlastet sind, dass sich Erschöpfung und Frustration breitmachen. Die Leute leisten Überstunden, die sie nie kompensieren können, arbeiten unter den schwierigsten Bedingungen in Zwölfstunden-Schichten, verzichten zwangsweise auf Ferien. Da wundert es nicht, dass seit Beginn der Pandemie 10 bis 15 Prozent des IPS-Personals den Beruf an den Nagel gehängt haben und offene Stellen kaum mehr besetzt werden können.
Ein Drittel aller IPS-Patienten hat Covid. Sie müssen im Durchschnitt viermal so lange dortbleiben wie die übrigen. 80 Prozent von ihnen sind Ungeimpfte. Die Ärztinnen und Pfleger, die auf den IPS ausharren, werden wohl mehrheitlich nicht weglaufen. Es sind Menschen, die ihren Beruf mit viel Verantwortungsbereitschaft und einem unüblich hohen Mass an Selbstlosigkeit ausüben.
Das ist bewundernswert – aber auch ein wenig gefährlich: gefährlich für die IPS-Leute selbst, weil das wiederholte Missachten eigener Grenzen nicht geringe Risiken birgt. Gefährlich aber vor allem für eine Gesellschaft, die sich daran gewöhnt, auf die Selbstlosigkeit der Profis in den IPS zu zählen. Es droht ernsthaft die Gefahr von Zusammenbrüchen an kritischen Stellen der Gesundheitsversorgung.
Pandemiepolitik beruht zu einem guten Teil auf Kommunikation. Die Regierung ist darauf angewiesen, ihr Handeln verständlich zu machen und die Bevölkerung mit ins Boot zu holen. Besonders wichtig ist es, dass sie diejenigen, die in der Pandemie stark exponiert sind – medizinische Berufsleute, Lehrpersonen, Rettungsdienste, Sicherheitspersonal – davon überzeugen kann, dass die Pandemie fundiert, zielgerichtet und effizient bekämpft wird und dass die Leute an der Front deshalb nicht auf verlorenem Posten stehen.
In dieser Hinsicht wird die Schweizer Pandemiepolitik besser werden müssen. Es wurde bisher zwar generell nicht schlecht entschieden, aber es dauert immer wieder viel zu lange. Notorisch rennt man der Entwicklung hinterher, statt jeweils weitblickend und rechtzeitig vorzusorgen.
Zudem agiert die Kommunikation nicht auf dem Niveau der Anforderungen. Es genügt nicht, abstrakt von Eigenverantwortung zu reden. Vor allem bezüglich des Impfens reichen allgemeine Aufrufe nicht aus. Ungeimpfte profitieren davon, dass eine Mehrheit sich hat impfen lassen. Man muss die Zögerer unmissverständlich auffordern, endlich ihren Teil zur Eindämmung der Seuche beizutragen.
So lange es politisch nicht gelingt, mit aller Entschiedenheit in den Kampfmodus zu schalten und den Ernst der Lage kommunikativ klarzumachen, wird die Schweiz in der Pandemiebekämpfung das westeuropäische Schlusslicht bleiben.