Die liebste Beschäftigung vieler Corona-Kommentatoren ist es, in der seit anderthalb Jahren grassierenden Covid-Krise den Regierungen und andern Verantwortlichen regelmässig «völliges Versagen» vorzuwerfen. Hält das einer differenzierten Betrachtung stand? Kennen die Schreibtisch-Schiedsrichter keine Demut?
Das Paradebeispiel der Regierungskritiker beim Corona-Thema ist die Sache mit der Maskenpflicht. Mit nie erlahmendem Eifer wird auf der Episode zu Beginn der Pandemie vor anderthalb Jahren herumgeritten: Zuerst habe es geheissen, Masken seien nicht wirksam gegen Covid-19. Dann sei plötzlich die Maskenpflicht deklariert worden. Und dann, so wird die Geschichte genüsslich weitererzählt, gab es nicht genug Masken. Staatsversagen, ein Desaster!
Hat die Berliner Ampel virusmässig schon versagt?
Vielleicht sollte man einmal genauer nachfragen, ob denn die entsetzten Kommentatoren, die immer wieder auf diese längst überwundene Kalamität zurückgreifen, damals im Frühjahr 2020 von Anfang an so genau gewusst haben, dass Masken ein wichtiges Hilfsmittel gegen die Virusplage sind. Die Rede ist hier nicht von den Anti-Impf-Fundamentalisten und grundsätzlichen Massnahme-Gegnern, die ohnehin keine rationalen Argumente mehr annehmen. Es geht hier um jene Medien-Zampanos, die zwar die Pandemie-Realität und ihre Bedrohungen für die Gesellschaft durchaus anerkennen. Doch in ihren Kommentaren geben sie unaufhörlich zu verstehen, dass sie alles besser wissen als die zuständigen Behörden und Politiker. Und dass man die Probleme längst unter Kontrolle hätte, wenn die Leute an den politischen Schalthebeln endlich auf sie hören würden.
So wird im Leitartikel der aktuellen «Spiegel»-Nummer apodiktisch behauptet, die Vertreter der sich bildenden Ampel-Koalition aus SPD, FDP und Grünen hätten bei den laufenden Verhandlungen in Berlin über ein Regierungsprogramm völlig versagt. Diese Parteien hätten überhaupt noch nichts Ernsthaftes über das weitere Vorgehen in der Covid-Krise zu Papier gebracht. Also steht, obwohl die Verhandlungen weiterlaufen und eine Koalition noch gar nicht offiziell beschlossen ist, das Urteil des Schreibers bereits fest: Die wahrscheinlichen Nachfolger der Merkel-Regierung sind hilflos in der Corona-Krise, sie wissen nicht was tun.
«Beschämende» Schweiz
Auch der Chefredaktor der NZZ weiss genau, dass «die Politik» im Kampf gegen Corona feige handelt, weil sie bei ihren Verlautbarungen und Anordnungen die «Vorläufigkeit allen Wissens» zu diesem Thema angeblich nicht berücksichtige. Wenn wir uns richtig erinnern, hatte aber die deutsche Kanzlerin Merkel schon sehr früh nach Ausbruch der Covid-Pandemie im Frühjahr 2020 erklärt, dass man im Kampf mit dieser Herausforderung «auf Sicht» fahre, weil vieles über die Natur des Virus und die wirksamsten Strategien dagegen noch ungeklärt seien. Und weisen nicht die Gesundheitsminister Berset, Spahn und Mückenberg in den drei von der Corona-Krise zurzeit besonders akut betroffenen deutschsprachigen Ländern bei ihren Auftritten stets darauf hin, dass man zusätzliche oder veränderte Verhaltensregeln je nach Weiterentwicklung der Pandemie selbstverständlich in Betracht ziehe? Was wird da gegenüber dem Bürger verschwiegen?
Der Kommentator der Internetzeitung «Republik», Daniel Binswanger, qualifiziert die Corona-Politik in der Schweiz pauschal als «beschämend». Aus seiner Sicht ist längst bewiesen, dass unser Land zumindest bei diesem Thema «nicht lernfähig» sei. Er räumt in seiner trostlosen Enttäuschung immerhin ein: «Es ist die Politik, die wir gewählt haben.» Gerne wüsste man vom Autor, welche andere Politik oder welche anderen Politiker man denn beim nächsten Wahlgang wählen sollte.
Als ein Versagen «der Politik» zählen die Besserwisser-Kommentatoren auch, dass die Impfquote in den erwähnten deutschsprachigen Ländern immer noch zu niedrig ist. Da ist die Rede davon, dass die Impfangebote möglichst «niederschwellig» sein müssten. Wie genau man die Impfgegner und Impfskeptiker noch besser erreichen und vom Sinn des Piksens überzeugen könnte, wird dabei vornehm verschwiegen. Fahren in der Schweiz und anderswo nicht spezielle Impfbusse in die Dörfer und vor die Sportstadien? Ist bei uns vor kurzem nicht eine kostspielige «Impfwoche» organisiert worden, die dann in einigen Medien hochnäsig oder höhnisch als Flop belächelt wurde?
Wer über den nationalen Tellerrand blickt
Wer ein wenig über den nationalen Tellerrand hinausschaut, wird kaum bestreiten können, dass die Schweiz im globalen Vergleich oder gegenüber den Nachbarländern in der Corona-Krise keineswegs so himmeltraurig dasteht, wie das die medialen Besserwisser uns einreden wollen. Das lässt sich zum Beispiel aus zwei Statistiken ableiten, die für die Einschätzung unseres Landes in der internationalen Covid-Arena von einigem Gewicht sind. Zum einen geht es um den aktuellen Stand der Impfquote gegen das Virus. Hier steht die Schweiz mit einem der Anteil der Geimpften von 65 Prozent an der Gesamtbevölkerung (gemäss der Website «Our World Data») zwar im unteren europäischen Mittelfeld, gleich wie Österreich und noch etwas tiefer als Deutschland (68 Prozent). Deutlich höhere Quoten haben Norwegen (70 Prozent), Italien (74 Prozent) und Portugal (86 Prozent).
Auf der anderen Seite ist die sogenannte Übersterblichkeit (das heisst die Sterberate pro 100’000 Einwohner im Vergleich zu den durchschnittlichen Mortalitätszahlen) in der Schweiz mit 130 deutlich niedriger als in den vorbildlicheren Impfländern Italien (220) oder Portugal (180). Auch in Schweden oder in Grossbritannien ist die Übersterblichkeit um einiges höher als in der Schweiz. Nur in Deutschland (118) und vor allem in Dänemark (48,5) ist diese Zahl erheblich niedriger als in unserem Land. Diese Zahlen beziehen sich auf eine aktualisierte Tabelle zur Übersterblichkeit seit Ausbruch der Covid-Pandemie, die der britische «Economist» zusammenstellt. Die gegenüber der Impfquote vorteilhaften Übersterblichkeits-Indizien haben offenbar mit dem gut funktionierenden medizinischen Versorgungssystem in der Schweiz zu tun.
Niemand behauptet, in Sachen Pandemie-Bekämpfung sei hierzulande alles bestens bestellt und es gebe nichts zu verbessern oder neu zu überdenken. Doch das Narrativ der medialen Corona-Besserwisser, die dem Publikum notorisch einzureden versuchen, die Realitäten zu diesem Thema seien eine einzige Katastrophe und die verantwortlichen Politiker alles unfähige oder rückgratlose Gaukler, kann selbstständig denkende Bürger nicht überzeugen. Natürlich gehört politische Kritik zum Wesen einer lebendigen Demokratie. Aber zur Glaubwürdigkeit von Kritik gehört auch ein gewisses Mass an Fairness und Differenzierung. Und ebenso ein Quentchen von jener Demut, die dem Leser zu verstehen gibt, dass der Kommentator selber die Weisheit zumindest in Sachen Corona auch nicht mit Löffeln konsumiert hat und nicht alles viel besser weiss.