Unter den südlichen Kopfgeleisen des Zürcher Hauptbahnhofs wird am 12. Juni der neue Bahnhof Löwenstrasse eingeweiht. Der zweite Durchgangsbahnhof hat hart erkämpft werden müssen, nicht gegen Feinde des öffentlichen Verkehrs, nicht gegen die Autolobby, sondern gegen die SBB, auch wenn sich diese jetzt noch so stolz auf das Werk zeigen.
Eine indirekte Schuld an diesem Paradoxon trägt die frühe und rasche Elektrifizierung des Schweizer Schienennetzes unter dem Eindruck der Kohleknappheit im Ersten Weltkrieg. Durch die Einsparungen im Betrieb kaum gebremst, stieg parallel dazu die Verschuldung der SBB bedrohlich an. Die Sanierung wurde von der Politik an strenge Auflagen für die künftigen Investitionen geknüpft, womit bis in die siebziger Jahre fünf Kilometer neue Doppelspur auf der Gotthard- oder Simplonlinie, nach Chur oder St. Gallen und auf den beiden West–Ost-Transversalen zu lang ersehnten Grossereignissen wurden.
Knotenpunkte vergessen
Vom legendären Reiterstellwerk "Seufzerbrücke" aus gesteuert, bewältigte der Hauptbahnhof Zürich trotz brillanten Leistungen unter der Leitung bewundernswerter Bahnhofinspektoren den wachsenden Verkehr immer mühsamer. Eine unglücklich mit einer Untergrundbahn gekuppelte S-Bahn-Vorlage scheiterte 1973 deutlich.
Ein zweiter Anlauf brachte 1981 trotz Absenz des Bundes den Durchbruch. 1982 und intensiviert ab 1987 reizte der nationale Taktfahrplan das Zürcher Gleissystem bis aufs Äusserste aus. Entsprechend spürbar war 1990 die Erleichterung über die Inbetriebnahme der Zürcher S-Bahn mit den Bahnhöfen Hardbrücke, Museumstrasse, Stadelhofen und Stettbach.
Drei Jahre zuvor hatten die Schweizer Stimmberechtigen dieAusbauvorlage Bahn und Bus 2000 genehmigt, mit der nicht sehr überwältigenden Mehrheit von 57 Prozent. Der Kredit war ungenügend, so dass bloss eine von vier Neubaustrecken (und der Tunnel Zürich–Thalwil) realisiert werden konnte. Bei der Feinplanung zeigte sich, dass wichtige Knotenpunkte die versprochenen zusätzlichen Züge nicht würden aufnehmen können, besonders peinlich im Falle des Bahnhofs Zürich, dessen Kapazitätsprobleme man behoben glaubte.
Geheimplan aufgedeckt
Einen Zusatzkredit lehnte Verkehrsminister Adolf Ogi ab. Die Bahn 2000 war zu redimensionieren. In Zürich fand man eine Lösung gleich hinter der Sihlpost, dem Sitz der damaligen SBB-Kreisdirektion, beim Blick auf Abstell- und Postgleise, die sich nach Altstetten verlegen liessen. Der dem Kopfbahnhof seitlich vorgelagerte Flügelbahnhof Sihlpost war geboren, von Kanton und Stadt Zürich ohne Beitragsforderung gern gesehen.
Der Geheimplan gelangte ans Licht, weil ein verräterischer Satz in der Publikation zu einem anderen Thema in der Redaktion der NZZ aufgefallen war. Statt nach der billigsten Lösung konnte nun auf breiterer Grundlage nach dem besten Bahnhof für die grösste Stadt des Landes gesucht werden, der kommenden Generationen optimal dienen sollte.
Ein Bahnhof Sihlpost war wegen zu langer und unkomfortabel schmaler Umsteigewege zu den Zügen und Tramhaltestellen abzulehnen. Das Stichwort "zweiter Bahnhof Museumstrasse" drängte sich auf, da eine oberirdische Bahnhoferweiterung städtebaulich nicht in Frage kam. Der einst als "Zürichberglinie West" vorgeschlagene Weinbergtunnel war die einzige Alternative zur vehement abgelehnten Verbreiterung des Wipkinger Viadukts.
Den SBB kamen diese kundenfreundlichen, aber kostspieligen Pläne wenig gelegen. Ihr Infrastrukturchef erklärte an einer Medienkonferenz in Zürich, dass der Flügelbahnhof selbst langfristig genüge. Den nötigen Druck und Umschwung brachte eine überparteiliche Volksinitiative, die weitsichtige Politiker, vorerst als Einzelgänger, ausgearbeitet und eingereicht hatten. Eine modifizierte Vorlage von Regierung und Kantonsrat passierte die Volksabstimmung mit über 80 Prozent Ja.
Zürich ist nicht Stuttgart
Der Durchgangsbahnhof Löwenstrasse ist mehr als ein zweiter Bahnhof Museumstrasse. Nach einer abrupten Praxisänderung soll er ab 2016 auch dem Fernverkehr dienen. Dadurch stieg der Bundesbeitrag. Zudem verbesserte sich die Akzeptanz auch ausserhalb Zürichs, weil Durchgangsbahnhöfe Hoffnungen auf schnellere Verbindungen wecken. Mit nur drei S-Bahn-Linien wäre der Bahnhof Löwenstrasse untergenutzt.
Anders als in Stuttgart wird in Zürich der Kopfbahnhof nicht aufgegeben. Der Bahnhof Löwenstrasse bildet nicht die erste Etappe dazu. Alle 16 Kopfgeleise der SBB sind modernisiert, durch Verzicht auf die nicht mehr benötigten Gepäckperrons verbreitert und auf 400 m verlängert worden. Seit vor mehr als 100 Jahren (!) Pendelzüge mit Führerständen an beiden Enden (in Frankreich, Deutschland, Ungarn auch im Dampfbetrieb) eingeführt worden sind, müssen in den Kopfbahnhöfen die Lokomotiven nicht mehr gewechselt werden. Reisende schätzen das ebenerdige Umsteigen bei Kopfgeleisen.
Die Interregio-Züge Luzern–Zürich Flughafen halten in Zürich planmässig nur 5 Minuten. Mit jüngeren Triebfahrzeugen und moderner Technik könnte diese Zeit auf 3–4 Minuten, die Zeit des Fahrgastwechsels, gekürzt werden. Im Durchgangsbahnhof werden die Schnellzüge mindestens ebenso lang halten, für Anschlüsse auch länger.
Problematische Mischung
Die Mischung von Fern- und Regional-(S-Bahn-)Verkehr ist in anderen Ländern selten. In Paris würde die Idee, TGV-Züge von Lille über die RER-Linien B und A durch das Stadtzentrum nach Südfrankreich zu leiten, mit Kopfschütteln aufgenommen. Die Berliner Stadtbahn besteht aus getrennten Doppelspuren für den Schnellzugs- und den S-Bahn-Verkehr.
Seit langem haben auch die SBB die Entflechtung angestrebt. Aufgrund meist langer Laufwege mit Störungsmöglichkeiten und der faktischen Notwendigkeit, Anschlüsse abzuwarten, sind Fernverkehrszüge unpünktlicher als S-Bahnen. Die Schnellzüge drohen Verspätungen ins S-Bahn-Netz zu importieren. Um diese Gefahr in Grenzen zu halten, werden die Disponenten der SBB sich laufend die Auswirkungen im Bahnhof Löwenstrasse vor Augen halten müssen, wenn sie in Bern, Winterthur oder sonst einem Knotenpunkt einen Anschluss abwarten lassen.
Bei westlichen Ausfahrten aus dem neuen Bahnhof haben die Fernverkehrszüge Steigungen von gegen 40 Promille (Gotthard 26 Promille) zu überwinden, worauf eine gekrümmte Rampe auf den langen Viadukt nach Altstetten folgt. "Raketenstarts" sind dabei nicht zu erwarten. Oben angekommen, werden die Züge jedoch rasch auf 120 km/h beschleunigen. Um eine Zugfolge von 2 Minuten nach Olten zu erreichen, wird man wohl Züge aus dem Kopfbahnhof dazwischen einspeisen müssen.
Im Durchgangsbahnhof lassen sich keine Zugskompositionen verstärken oder schwächen. ICN-Züge von Biel zum Beispiel fahren im Kopfbahnhof auf eine zweite Einheit auf, bevor sie zur Stosszeit gekuppelt nach St. Gallen weiterrollen. Umgekehrt werden in Zürich Kompositionen abgehängt und später in ein Abstellgleis verschoben.
Auf den zwei Gleisen pro Richtung des Bahnhofs Löwenstrasse werden solche Manöver so wenig wie beispielsweise in Bern möglich sein, was bedeutet, dass sich die Länge der Fernverkehrszüge von Genf Flughafen bis St. Gallen dauernd nach den Stosszeiten richten muss. Die Auswirkungen auf den Personal- und Rollmaterialbestand, den Unterhalts- und Energieaufwand und die Gleisabnützung sind erheblich.
Grossartige Bauleistungen
Mit der Tatsache, dass ihnen der Bahnhof Löwenstrasse und die Durchmesserlinie über die Politik aufgedrängt werden mussten, haben sich die SBB noch nicht abgefunden. Das seinerzeitige Initiativkomitee ist zur Einweihung nicht eingeladen worden.
Die Ingenieure und Bauarbeiter haben unter laufendem Betrieb hervorragende Leistungen, oft wahre Wunder, vollbracht. Während sie bei der Unterquerung der Limmat teilweise dem Vorbild Bahnhof Museumstrasse folgen konnten, entstanden in Oerlikon staunenswerte Bauten. Zahllose Reisende haben den Verantwortlichen wohl vor allem täglich dafür gedankt, dass die vielstöckigen Wohnhäuser von weit oben nicht längst in den tiefen Einschnitt vor dem Tunneleingang gestürzt sind.