Seit 19 Jahren ist Sergej Lawrow Aussenminister der Russischen Föderation. Anfangs breit respektiert für seine diplomatische Professionalität, ist er auf internationalem Parkett seit der Annexion der Krim zunehmend zum Inbegriff der Lügenhaftigkeit und damit zum Paria geworden.
Lawrow ist ein in der Wolle gefärbter Sowjetfunktionär: Noch in der Zeit Stalins in Moskau geboren, absolvierte er ein Studium am Staatlichen Institut für internationale Beziehungen, der Kaderschmiede sowjetischer Diplomatie und Aussenpolitik. Er galt als brillant, strebsam und linientreu.
Seine diplomatischen Sporen verdiente er in Sri Lanka ab. Anschliessend fand man Lawrow in der Abteilung für internationale Organisationen im Moskauer Aussenministerium. Diese Position nutzte er als Sprungbrett für seine Karriere in der sowjetischen Vertretung bei der Uno in New York. Den Zerfall der Sowjetunion erlebte er wiederum in einer hohen Position in Moskau. Unbeschadet überstand er die Transformation zur Russischen Föderation. 1994 war er zurück in New York als russischer Uno-Botschafter.
2004 machte ihn Putin zum Aussenminister. Einen loyaleren Diener hätte er sich nicht holen können. Elegant legte Lawrow die Kurve von der vollen Parteidiktatur zur halben Demokratie hin. Das schadete seiner internationalen Reputation erst einmal wenig; Russland verlor als korrupte Scheindemokratie und als im Tschetschenienkrieg brutal agierende Militärmacht zwar Sympathien, aber man akzeptierte den wendigen Aussenminister erst einmal als kompetenten Vertreter der Interessen seines Landes – wie es eben diplomatischer Brauch ist.
Persönlich galt er als hochprofessioneller und in diesem Sinn verlässlicher Diplomat. Man wusste gar von einer musischen Seite des Apparatschiks: Er spielte Gitarre und schrieb Gedichte. Mit Kollegen anderer Länder pflegte der polyglotte Diplomat lange Zeit gute Beziehungen. Lawrow konnte gut mit den Aussenministern Frank-Walter Steinmeier und John Kerry. Die Profis im diplomatischen Geschäft sind es gewohnt, zwischen Persönlichem und Offiziellem zu unterscheiden. So kann man auch mit einem Gegenüber, mit dem man oft nicht einer Meinung ist, einen menschlich passablen, mitunter sogar freundschaftlichen Umgang pflegen.
Das änderte sich spätestens mit dem hybriden Krieg Russlands gegen die Ukraine ab 2014. In dem Masse wie Putin sich der Ideologie eines mythischen grossrussischen Imperiums verschrieb und seine Aggression gegen den Westen hochfuhr, versteifte sich auch sein Adlat im Aussenministerium auf ruppige Konfrontation.
Seither macht sich Lawrow zum Lautsprecher Putins und verbreitet getreulich dessen Lügen und Verdrehungen: Es gibt keine russischen Truppen auf der Krim; Russland wird niemals die Ukraine angreifen; Russland hat die Ukraine nicht angegriffen; Russland verteidigt in der Ukraine seine eigene Sicherheit; es gibt gar keine ukrainische Nation; Russland muss die Ukraine von einem Naziregime befreien – so die Eckpunkte der von Lawrow nachgebeteten Kreml-Version über den Ukrainekrieg.
Diese Woche hat Lawrow versucht, den Uno-Sicherheitsrat als Propagandaplattform zu missbrauchen, indem er in einer von ihm einberufenen Session den russischen Krieg als ein ganz im Sinne der Uno notwendiges Eintreten für das Prinzip des Multilateralismus und gegen amerikanisches Hegemoniestreben verkaufte. Uno-Generalsekretär António Guterres musste ihn in der Sitzung zur Ordnung rufen und feststellen, es sei Russland, das in der Ukraine die Charta der Vereinten Nationen und das Völkerrecht über den Haufen werfe.
Im Fall Lawrow liegt nicht bloss die persönliche Integrität in Trümmern. Es ist schlimmer: Auch seine Befähigung zu einem diplomatischen Verkehr ist zerstört. Schon beim G20-Treffen auf Bali im vergangenen Sommer gingen die Teilnehmer ihm persönlich und seiner Delegation aus dem Weg. Er ist nicht nur kein Gesprächspartner mehr, er ist auch als Kontrahent nicht mehr tragbar. Mit einem Vis-à-vis, das sich in absurden Tatsachenbehauptungen und Anschuldigungen einbunkert, gibt es keine Möglichkeit der Diskussion oder gar der Verhandlung. Es hat schlicht keinen Sinn, mit einem wie ihm zu reden.
Lawrow ist nicht jemand, der es halt mit der Wahrheit da und dort nicht so genau nimmt, und er ist auch kein Schönredner, der sich einzelne unvorteilhafte Tatsachen passend zurechtbiegt. Bei ihm ist das politische Agieren von der Realität völlig entkoppelt. Was in der Ukraine und in Russland wirklich geschieht, hat er ratzekahl gelöscht und überschrieben mit einer Fiktion.
Die Frage, was es für Sergej Wiktorowitsch Lawrow persönlich bedeutet, exponierter Träger einer Lügenkampagne von welthistorischem Format zu sein, soll hier keine Rolle spielen. Seine Gewissenserforschung muss er mit sich alleine ausmachen. Für ihn in seiner Eigenschaft als öffentliche Person jedoch geht es nicht bloss um Persönliches. Er ist primär Funktionär seines Staates, und er übt diese politische Funktion auf eine selbstzerstörerische Weise aus, die ins professionelle Debakel führt. Lawrow hat als Aussenminister abgewirtschaftet.
Russland lässt sich gegenüber dem Westen, den es ohne Not zu seinem Widersacher gemacht hat, von einem Mann vertreten, der jede Glaubwürdigkeit und Gesprächsfähigkeit verloren hat. Das ist aus Putins Sicht konsequent, da er dieses Gespräch ja ohnehin ausschlägt – mit dem langen Tisch im Kreml und den vielen Telefongesprächen, in denen er das Gegenüber in Berlin oder Paris kalt auflaufen liess. Sein Aussenminister Lawrow ist auf diplomatischem Parkett die Verkörperung dieser Gesprächsverweigerung. Als gewiefter Diplomat steht er für die Absage an jede Diplomatie. Diesen trostlosen Widerspruch kann man Lawrows erloschenem Gesicht ablesen.