Die Bürgermeisterin von Dieulefit hat am Mittwoch, am 10. Tag der Ausgangssperre, ihren 7. Brief an ihre Mitbürger geschrieben.
In aller Transparenz, so heisst es dort, wolle sie ihnen sagen, dass es inzwischen auch in Dieulefit Fälle von Covid-19-Infizierten gebe, die sich alle in Quarantäne zu Hause befänden. Dies sei keine Überraschung, von daher sei auch jede Panik unter der Bevölkerung fehl am Platz. Sie sei mit den niedergelassenen Ärzten am Ort in Kontakt und werde über alle weiteren Entwicklungen informieren.
Wahlabend
Elf Tage ist es her, seit im ganzen Land in Zehntausenden Wahlbüros noch die Gemeinderatswahlen abgehalten wurden. Angesichts der Stimmung, die heute im Land herrscht, der streng kontrollierten Ausgangssperren und der radikalen Veränderungen im Verhalten und im Alltag der Menschen erscheint dies aus heutiger Sicht schlicht ein Unding.
Inzwischen kommen nach und nach aus allen Ecken des Landes Meldungen, wonach sowohl Kandidaten und ihre Wahlkampfassistenten, besonders aber die Wahlhelfer, die oft bis zu acht Stunden in den Wahllokalen verbracht hatten, in grosser Zahl Covid-19-Symptome aufweisen beziehungsweise positiv getestet wurden. In Marseille, in Nizza, in zahlreichen Pariser Vororten weisen teilweise bis zu einem Dutzend Personen aus der Umgebung der einzelnen Kandidaten Symptome auf. Einzelne mussten gar ins Krankenhaus eingeliefert werden.
Natürlich ist man hinterher immer schlauer, und doch muss man festhalten: Diese Wahlen hätten nicht stattfinden dürfen. Gerade zwei Wochen ist es her, da haben noch sämtliche Parteien Frankreichs lautstark für die Abhaltung der Wahlen plädiert. Zumindest kann niemand im Nachhinein dem anderen den Schwarzen Peter zuschieben.
Und auch wenn man an den Wahlabend hier in Dieulefit zurückdenkt, reibt man sich heute die Augen. Kaum jemand hat sich vorher und nachher die Hände gesäubert, die Wahlhelfer, fast alle ohne Atemschutzmaske, sassen relativ dicht beieinander, die Wahlkarten gingen von einer Hand in die andere und bei Bekanntgabe des Wahlergebnisses füllten am Abend gut hundert Menschen den Saal und diskutierten hinterher im Foyer und vor dem Gebäude in kleinen und grösseren Gruppen das Ergebnis der einen und der anderen Liste. Mehr als wahrscheinlich, dass sich einige der an Covid-19-Erkrankten in Dieulefit bei dieser Gelegenheit angesteckt haben.
Es renkt sich ein
Nun, 11 Tage später, kontrollieren die Gendarmen am Ort die Einhaltung der Ausgangssperre so gut und so viel sie können. Vor dem Haus schicken sie zwei ältere Damen von ihrem Spaziergang ziemlich abrupt zurück ins Dorf. Radfahrer in Rennbekleidung und mit Helm sind jetzt schon seit drei Tagen nicht mehr vorbeigekommen. Auf einer Baustelle in 500 Meter Entfernung darf offensichtlich weiter gearbeitet werden. Jedenfalls zwängen sich Laster mit schwerem Gerät durch die schmale Strasse. Fast überall stürzen sich diejenigen, die einen Garten haben, allem Anschein nach in die Gartenarbeit. Die besondere Coronaruhe vernimmt man nur noch dann, wenn Rasenmäher, Heckenscheren und Baumsägen Ruhe geben. Das grosse Problem der Hobbygärtner schlägt sich in den örtlichen Facebookseiten nieder: Einer nach dem anderen fragt, wo er in diesem Frühjahr jetzt Samen und Setzlinge herbekommen soll.
Am Mittwoch um 19.30 Uhr haben auch in Dieulefit zehn Minuten lang die Glocken des evangelischen und des katholischen Gotteshauses geläutet und folgten damit einem landesweiten Aufruf der beiden Kirchen.
Macron – der Kriegsherr
Nichts wird dem Zufall überlassen. 35 Minuten nach dem landesweiten Glockenläuten, um Punkt 20.05 Uhr meldete sich Staatspräsident Macron ohne grosse Vorankündigung erneut per Funk und Fernsehen bei seinen Mitbürgern, unter denen viele wie jeden Tag knapp zuvor um 20 Uhr an ihren Fenstern dem Pflegepersonal, den neuen Helden des Landes, applaudiert hatten.
Die Ansprache des Staatsoberhaupts – in einem Militärlazarett für Schwerkranke in Mulhouse, für dessen Einrichtung man drei Wochen gebraucht hatte – war perfekt inszeniert, mit Kriegsrhetorik gespickt – von der ersten, zweiten und dritten Reihe im Kampf gegen das Virus war beispielsweise die Rede – und zugleich reichlich dick aufgetragen, etwa indem mindestens zehn Mal der nationale Zusammenhalt oder die aufopferungsvolle Arbeit des Pflegepersonals in Frankreichs Krankenhäusern beschworen und gerühmt wurden.
Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Macron im besonders schwer betroffenen Osten Frankreichs auf Clemenceau machte und in die Rolle des Kriegsherrn schlüpfen wollte. Dabei hatten seine Redenschreiber und Kommunikationsspezialisten den Bogen allerdings deutlich überspannt. Zu viel Pathos, zu viele Wiederholungen.
«Die Inflation mit schönen Worten kann den Mangel an Ausrüstung allerorts nicht verdecken» und «Grossprecherei kann Effizienz nicht ersetzen», lauteten die bissigen Kommentare am Donnerstagmorgen.
Coronavirus hilft den Streikenden
Immerhin: Eine konkrete Ansage hat der Staatspräsident gemacht. Für die Zeit nach der Krise versprach er einen massiven Investitionsplan für Frankreichs Krankenhäuser und eine finanzielle Besserstellung des Krankenhauspersonals. Man darf sich am Kopf kratzen. Dieses winzige Virus Covid-19 hat mehr oder weniger im Handumdrehen geschafft, was zehntausende Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger in über einem Jahr mit Petitionen, Streiks und Massendemonstrationen nicht erreichen konnten. Das völlig überarbeitete Krankenhauspersonal geht in Frankreich seit Jahren auf dem Zahnfleisch, geändert an seinen Arbeitsbedingungen und der mangelnden personellen Ausstattung der Krankenhäuser hatten die Hilferufe der letzten Jahre nichts – bis Covid-19 kam. Plötzlich liegt man an höchster Stelle den Beschäftigten im Gesundheitswesen zu Füssen.
Rentenreform – war da was?
Und fast nebenbei hat das winzige Coronavirus jauch Macrons so genannte Mutter aller Reformen, die heftig umstrittene Rentenreform de facto zu Fall gebracht. Knapp bevor die Regierung es geschafft hätte, dieses Reformvorhaben vor dem Sommer ohne weitere Debatten durch das französische Parlament zu peitschen, warf Covid-19 alles über den Haufen. Plötzlich kann sich niemand mehr vorstellen, dass der Präsident nach der Coronakrise und angesichts der gigantischen wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die ihm dann ins Haus stehen werden, im kommenden Herbst hinsichtlich der Rentenreform einen Neuanfang startet.
Alkoholverbot?
Am Dienstag dieser Woche geisterte in der Coronakrise rund zehn Stunden lang ein Gespenst durch Frankreich. Ziad Khoury, der Präfekt des Departements Aisne, 100 Kilometer nordöstlich von Paris, hatte per Erlass verfügt, in sämtlichen Geschäften und Supermärkten seines Departements den Verkauf alkoholischer Getränke einzustellen.
Spontan rieb man sich die Augen und sagte sich, da hat wieder mal einer dieser Abgänger der Elitehochschule ENA zugeschlagen, die superintelligent und höchstqualifiziert sind, aber das Land, das sie regieren, im Grunde nur sehr unzulänglich kennen und so etwas wie den gesunden Menschenverstand bei Beginn ihrer Karriere an der Pforte abgegeben haben.
Der 50-jährige Präfekt, der auf dem Papier eine brilliante Karriere vorweisen kann und z. B. für die Sicherheit während der Fussball-Europameisterschaft 2016 in Zeiten der Terrorangst verantwortlich war, wollte in Zeiten der Ausgangssperre – so sein Erlass – die häusliche Gewalt innerhalb von Familien, die häufig durch übermässigen Alkoholkonsum ausgelöst werde, im Zaum halten.
Im Grunde natürlich völlig richtig, zumal in Frankreich jeden dritten Tag eine Frau von ihrem Mann oder Partner zu Hause erschlagen wird und dieser Zustand im Frankreich der letzten Monate ein riesiges Thema war.
Nur hat der Präfekt eines nicht beachtet: Jeder fünfte Franzose trinkt nun mal täglich Alkohol und rund drei Millionen sind abhängig. Also machten sich viele im Departement Aisne einfach auf den Weg in die Nachbardepartements – in Coronazeiten wahrlich nicht gerade optimal. Nach knapp zehn Stunden musste der oberste Vertreter des Zentralstaates im Departement zurückrudern. Kleinlaut liess er wissen, dass er nach «intensiven Gesprächen mit Adiktologen» seinen Erlass zurückziehe.
Virus in der Presse
Das Coronavirus hat an diesem Mittwoch bei der ältesten Dame der französischen Presse, dem «Canard enchainée», nicht weniger als eine doppelte Revolution zur Folge gehabt. Das Blatt, das seit 103 Jahren immer an diesem Wochentag erscheint, hat diesen Mittwoch – wie sonst nur in seinen Anfangsjahren während des Ersten Weltkriegs – vier und nicht acht Seiten.
Vor allem aber musste das satirische Wochenblatt angesichts geschlossener Zeitungskioske in den Grosstädten und Problemen bei der Zustellung per Post für die Abonnenten gleichzeitig mit einem Tabu brechen, auf das man beim Canard bis jetzt mächtig stolz war, nämlich als einzige Zeitung Frankreichs nicht im Internet vertreten zu sein und weiter ausschliesslich auf Papier zu setzen. An diesem Mittwoch aber konnte nun plötzlich jeder Interessierte den Canard für 1 Euro hochladen und die Abonenten ihn kostenlos auf ihrem Computer lesen. «Ein echtes Ereignis» schrieb der Leitartikler, so als könne er selbst nicht daran glauben, dass das Virus auch seine Zeitung erwischt hat.
Sportberichte ohne Sport
Historisch wird dieser Mittwoch auch für die renommierte grosse Sportzeitung «L’Equipe» bleiben. In diesen für sie so überaus sauren Gurkenzeiten, hat L’Equipe eine phantastische Titelseite hingelegt: «Asterix bei den Olympischen Spielen … im Jahr 2021» steht da über dem von Obelix und Idefix bejubelten Gallier, der vor einer griechischen Säule und der olympischen Flamme natürlich ganz oben auf dem Podest steht. Der Tod des 92-jährigen Erfinders und Zeichners der aufmüpfigen Gallier, Albert Uderzo, und die Absage der Olympische Spiele in Japan für diesem Sommer waren am Vortag fast zeitgleich bekannt geworden.
Schon seit Tagen musste man sich fragen, wie eine Sportzeitung ihre Seiten füllt, wenn weltweit schon seit Wochen kein Sport mehr stattfindet.
Eben da zeigt sich die Stärke dieses Qualitätsblattes. Sport mal tiefgründig, Sport als gesellschaftliches Phänomen – viel Historisches und Sportpolitisches, gute Portäts oder Stories über den Alltag einzelner Sportler unter der Ausgangssperre füllen jetzt die Seiten. Der Titel an diesem Donnerstag: «Unsere Helden». Mehrere Seiten über ehemalige Sportler und Sportlerinnen, die jetzt im Gesundheitswesen arbeiten. Etwa über eine einst bekannte Basketballerin, die ihren heutigen Alltag als Krankenschwester in einem Pariser Vorort schildert. Oder aber man erfährt auf einer Doppelseite und will es kaum glauben, dass in einem europäischen Land doch noch Fussball gespielt wird: im autokratisch-diktatorischen Weissrussland.
Tour de France?
Nach der Verschiebung der Fussballeuropameisterschaft und der Olympischen Spiele ist in Frankreich seit gestern die Debatte darüber ausgebrochen, wie es denn um die Austragung der Tour de France 2020, des weltweit drittgrössten Sportereignisses steht, das am 27. Juni in Nizza starten soll. Diese Tour wird seit Jahrzehnten im übrigen vom Besitzer der Sportzeitung L’Equipe ausgerichtet, Amaury Sport Organisation (ASO).
Wenn nicht alles täuscht, haben die Diskussionen mit einem Witz begonnen. Frankreichs Sportministerin Roxana Maracineanu will anscheinend tatsächlich ins Auge fassen, dass die Frankreichrundfahrt ohne Zuschauer am Strassenrand stattfinden könnte. Zur Entschuldigung der Ministerin sei gesagt, dass sie früher Schwimmerin war. Die Tour de France, die seit 1903 nur durch die beiden Weltkriege zu stoppen war, drei Wochen lang ohne die Stimmung und die Abermillionen Menschen am Strassenrand durch Frankreich tingeln zu lassen, das wäre als würden zum Beispiel die Karnevalsumzüge im Rheinland oder der Morgestraich in Basel auf leeren Strassen stattfinden.
Die Tour de France als reines TV-Ereignis und grossformatige Tourismuswerbung für Frankreich, wissend, dass 50 Prozent der Fernsehzuschauer jeden Juli hauptsächlich wegen der wunderschönen Landschaftsbilder vor der Kiste sitzen? Jedoch geht es bei dieser Veranstaltung eben auch um hunderte Million Euro und die ersten Profi- Teams haben bereits signalisiert, sie könnten sich die Tour ohne Zuschauer durchaus vorstellen. Na denn.