In knapp drei Jahren, Ende Juni 2017, werden die Palästinenser auf ein halbes Jahrhundert israelischer Besatzung zurücksehen. Fünfzig Jahre sind es dann her, dass Israel Ost-Jerusalem, das Westjordanland und Gaza besetzte – und trotz Hunderter amerikanischer, europäischer und auch arabischer Vermittlungsversuche nicht mehr herausrückte. Seitdem gab es den Yom-Kippurkrieg von 1973, die israelischen Invasionen in den Libanon von 1982 und 1996, den Krieg gegen die Hisbollah 2006, die Belagerung des Amtssitzes von Jassir Arafat in Ramallah 2002, die beiden palästinensischern Aufstände von 1987 und 2000 und inzwischen drei Gazakriege – um nur einige der verheerenden militärischen Auseinandersetzungen zu nennen.
Seitdem gibt es auch kaum eine palästinensische Familie, von der nicht mindestens ein Mitglied kürzer oder länger in einem israelischen Gefängnis gesessen hat. Seitdem haben sich etwa 500’000 israelische Siedler in Ost-Jerusalem und im Westjordanland festgesetzt; und seitdem hat Israel Zehntausende von Olivenbäumen und damit die Lebensgrundlage vieler Palästinenser zerstört. Und seitdem hat Israel auch Hunderte, wenn nicht Tausende palästinensischer Häuser dem Erdboden gleichgemacht.
Radikalisierte Palästinenser
Diese traurigen Fakten muss man sich zu allererst in Erinnerung rufen, wenn man nach den Ursachen der neuesten Katastrophe fragt, die Israel über die etwa 1,8 Millionen Palästinenser gebracht hat, die im Gazastreifen leben. Es wäre ein Wunder, wenn es gegen diese israelische Politik keinen palästinensischen Widerstand gegeben hätte. Zuerst rief die PLO Jassir Arafats zu den Waffen – erkannte dann aber, 1988, den Staat Israel an, strich 1996 die Klausel aus ihrer Charta, welche die Zerstörung Israels forderte – und bekam dafür nichts, nicht einmal einen Ministaat auf den verbliebenen 23 Prozent des historischen Palästina. Kein Wunder ebenfalls, dass nach der, im übrigen durch und durch laizistischen PLO, eine radikalere Organisation auf den Plan trat, die „Palästinensische Widerstandsorganisation“ (Hamas) mit ihrer auf einem Islam, wie die Hamas ihn interpretiert, fussenden Ideologie.
Diese Hamas gewann 2006 die palästinensischen Parlamentswahlen (welche die USA und die EU gefordert hatten). Da das Ergebnis aber nicht im Sinne des Westens und Israels ausgefallen war, wurde die Hamas boykottiert, ihr demokratischer Wahlsieg wurde nicht anerkannt. Wen wundert es da, dass sich diese Hamas „radikalisierte“, wie der gängige Ausdruck lautet. Und wen wundert diese so genannte Radikalisierung angesichts der Tatsache, dass viele ihrer Führer – etwa Abdel Aziz Rantisi, Yahyia Ajash (der Bombenbauer) und der Hamasgründer, der gelähmte Scheich Ahmed Jassin – von Israel ermordet wurden.
Sicher, die Hamas hat mit ihren verheerenden und verbrecherischen Selbstmordattentaten auf israelische Staatsbürger grosse Schuld auf sich geladen, ebenso mit ihrer Strategie, Raketen in Wohnblöcken der Einwohner von Gaza zu stationieren.
Doch was eigentlich ist von Organisationen wie der Hamas und dem „Dschihad Islami“ und einer Bevölkerung von etwa 1,8 Millionen Menschen zu erwarten, die in einem von der Aussenwelt seit fast einem halben Jahrhundert abgeschlossenen Küstenstreifen hausen – ohne Chance auf Reisen ins Ausland, ohne angemessene Ausbildungschancen, viele von ihnen seit Jahrzehnten abhängig von der Unterstützung des UN-Flüchtlingshilfswerkes UNRWA, das Jahr für Jahr neu um finanzielle Zuwendungen der zu Unrecht so genannten „internationalen Gemeinschaft“ betteln muss, um viele verarmte Palästinenser Gazas am Leben zu erhalten?
Ausgeschlagene Friedensangebote
Friedensangebote an Israel hat es genügend gegeben – etwa jenes, das die Arabische Liga 2002 auf ihrer Gipfelkonferenz in Beirut gemacht hat: Für die Gründung eines palästinensischen Staates im Westjordanland, Gaza mit dem Sitz einer palästinensischen Regierung in Ost-Jerusalem boten die Araber die volle Anerkennung Israels an, den Austausch von Botschaftern sowie wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit. Israel ist auf diese umfassende Friedensofferte nie eingegangen. Und es ist erst wenige Wochen her, dass der amerikanische Aussenminister John Kerry seine etwa zwölf Monate langen Bemühungen aufgegeben hat, Israel zu einem Frieden mit den Palästinensern zu bewegen.
In den Trümmern der ständigen Kriege verschüttet ist das schon 21 Jahre alte Friedensabkommen von Oslo, das 1993 den Weg in eine gedeihliche israelisch-palästinensische Zukunft ebnen sollte. Israelische Politiker wie Ariel Sharon, Ehud Barak und Benjamin Netanjahu haben diesen Pakt allerdings niemals anerkannt. Und vergessen ist auch, dass es 1991 in Madrid eine Friedenskonferenz gab (anwesend waren etwa Michael Gorbatschow, George Bush und Yitzhak Shamir). Ebenfalls untergegangen ist die Erinnerung an die von Bill Clinton initiierte Konferenz von Camp David im Jahre 2000, auf der es, nach späteren Angaben aus amerikanischen Verhandlungskreisen, wiederum kein umfassendes israelisches Friedensangebot gegeben hat.
Friedensverträge, separate, hat Israel mit Ägypten (1979) und Jordanien (1995) geschlossen. Ägypten bekam den Sinai zurück, konnte aber die im Vertrag vorgesehene, von Israel versprochene Autonomie der Palästinenser nicht durchsetzen. Der Vertrag mit Ägypten brachte Israel den Vorteil, dass es bis heute keinen Zweifrontenkrieg zu befürchten hat – was wiederum etwa die Libanoninvasion von 1982 ermöglichte. Jordanien schloss, unter starkem Druck der USA, Frieden mit Israel – im, wie sich herausstellen sollte, trügerischen Glauben, dass die Verträge von Oslo die Befriedung der gesamten Region bringen würden.
Was will Israel?
Angesichts der vielen anderen, sich über Jahrzehnte hin erstreckenden, von Israel aber stets boykottierten Bemühungen, den Urkonflikt der Region beizulegen, ist es heute müssig zu fragen, ob die scheussliche Ermordung dreier israelischer Schüler (vermutlich durch Randgruppen der Hamas), der israelische Rachemord an einem palästinensischem Jungen oder der letztlich eher harmlose Raketenbeschuss Israels durch die Hamas (die verwerflicherweise auf dem Rücken der eigenen Bevölkerung ihr verblasstes Ansehen aufhellen will) ausschlaggebend für die erneute Katastrophe ist, die Israel über die Menschen im Gazastreifen gebracht hat. Die eigentliche Ursache ist und bleibt die seit fast einem halben Jahrhundert andauernde israelische Besetzung und die ebenso lang anhaltende stete Demütigung der Palästinenser.
Bleiben zwei Fragen: Was eigentlich will Israel? Und welche langfristigen Folgen wird dieser dritte Gazakrieg haben?
Die erste Frage ist leicht zu beantworten: getreu dem erstmals von Theodor Herzl in seinem Büchlein „Der Judenstaat“ (1896) aufgestellten Plan will Israel möglichst ganz Palästina für sich reklamieren. Und getreu einem Tagebucheintag von Herzl sollte der Gründung des „Judenstaates“ eigentlich die Vertreibung der einheimischen Bevölkerung vorausgehen. Da dies es aber niemals möglich war, soll diese Bevölkerung heute in wenigen, von Israel kontrollierten Zentren zusammengepfercht werden. Und getreu einem entscheidenden vom Zionisten Vladimir Jabotinsky im Jahre 1923 aufgestellten Grundsatz sollte der neue Staat Israel so stark und sollten die Palästinenser so schwach sein, dass jedweder palästinensische Widerstand wie an einer „Eisernen Mauer“ (so der Titel von Jabotinskys Aufsatz) abprallt.
Radikale Islamisten verändern Nahost
Bis jetzt hat dieses Konzept auf Kosten der Palästinenser weitgehend funktioniert. Doch die politische Situation in Nahost hat sich entscheidend geändert. Und damit wird auch die zweite Frage, jene nach den langfristigen Folgen des jetzigen Gazakrieges beantwortet. Einen syrischen und einen irakischen Staat, die jeweils stillschweigend, wenn auch unter verbalem Protest, Israels Politik geduldet haben, gibt es nicht mehr. Syrien und der Irak sind im Zustand der Auflösung. Auf den Territorien dieser letztlich von den Siegermächten des ersten Weltkrieges gegründeten Nationalstaaten sind radikalere Kräfte als Hamas und Hisbollah am Werk. Diese neuen „Radikalen“ sind dabei, eine neue übernationale islamisch geprägte, strikt antiwestliche und selbstverständlich anti-israelische Ordnung zu errichten.
Ob dieses Vorhaben gelingt, kann heute niemand sagen. Sicher aber ist, dass sich eine Organisation wie ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien) als nächstes Ziel Israel aussuchen würde, sollte sie in Restsyrien und im Restirak festen Fuss fassen. Im Vergleich zur Kampfkraft dieser islamischen Truppe sind die Schläge, welche die Hamas mit ihren Raketchen Israel verpasst, nicht mehr als zweifellos unangenehme Nadelstiche, welche unbeteiligte israelische Staatsbürger gefährden. Mit seiner jedwede Friedensbemühungen boykottierenden Politik beschwört Israel womöglich eine Situation herauf, die einen nahöstlichen Flächenbrand entfachen könnte, der die politisch lahmenden USA und Europa ins Herz treffen würde.
Bleibt die Frage, warum die USA und Europa und speziell Deutschland die menschliche Tragödie in Gaza mit Schweigen begleiten. Angesichts der israelischen Intransigenz haben sich die USA weitgehend aus dem Nahen Osten zurückgezogen. Niemals aber hatten sie den Mut, Israel durch Androhung von Sanktionen und Entzug von Subventionen zur Raison zu bringen. Europa, aussenpolitisch ebenso schwächlich wie im Inneren, hat ohnehin kaum Einfluss auf Israel.
Und Deutschland glaubt, seine Urschuld – den Mord an sechs Millionen Juden – dadurch gutmachen zu müssen, dass es alle Abwege, die Israel geht, schweigend deckt. Ein Fehler, der sich eines Tages bitter rächen könnte.