Wer über die Eurokrise schreibt, kommt meist etwa zu folgender Erkenntnis: Die Zentralbanken der USA und Europas überschwemmen die Welt mit Geld und sorgen für tiefe Zinsen. Das verleitet Privatpersonen, Staaten und ganze Länder dazu, auf Pump zu konsumieren und über ihre Verhältnisse zu leben. Jetzt muss diese Schuldenwirtschaft mit harten Sparmassnahmen, mit Austerität, beendet werden. Die Alternative wäre, dass die Schuldenmacherei weitergeht und die Gläubigerstaaten (sprich Deutschland) noch mehr Opfer bringen, was ebenso wenig zumutbar sei. (Siehe dazu etwa «Fatales Gratisgeld» von René Zeyer oder «Die EU braucht eine Generalüberholung» von Jörg Thalmann.)
Alltagsbilder statt ökonomischer Betrachtung
Aus dieser Perspektive hat Europa nur noch die Wahl zwischen zwei Übeln: Rezession sofort – oder noch mehr Rezession später nach einer galoppierenden Inflation und dem Zusammenbruch des Finanzsystems. Viele, wie etwa Klaus Wellershoff, der ehemalige Chefökonom der UBS, ersetzten Argumente mit Metaphern aus dem Alltagsleben: Die Überschuldung müsse nun leider mit einer langen Rezession «ausgeschwitzt» werden. Wer zu lange über seine Verhältnisse gelebt habe, müsse jetzt halt unten durch.
Diese Perspektive ist nur deshalb so düster, weil sie viel zu eng ist. Der Horizont erweitert sich ungemein, sobald wir uns daran erinnern, dass die Regeln der doppelten Buchhaltung auch in der Volkswirtschaft gelten. Wenn sich der Staat verschuldet, muss zumindest ein anderer Sektor der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung – also die Unternehmen oder die Privathaushalte – entsprechende Guthaben aufbauen. Aus der nationalen Perspektive gesehen, kommt das Ausland als vierter Sektor hinzu.
Der Mechanismus der Geldschöpfung
Am politischen Biertisch darf man sich zwar über die «unverantwortliche Schuldenmacherei» des Staates aufregen. Als Ökonom muss man hingegen erstens alle Sektoren im Auge behalten. Zweitens sollte man nicht vergessen, dass Schulden und Guthaben immer in der realen Güterwelt entstehen. Die Notenbanken können höchstens fremde Schulden (des Staates) in eigene, kurzfristige Schulden umwandeln. Was man gemeinhin «Geldschöpfung» nennt, ist bloss die Umwandlung einer bereits bestehenden Schuld in eine andere.
Aus dieser umfassenden Perspektive sieht nun das Problem ganz anders aus, als es normalerweise dargestellt wird. Der Ursprung des Übels liegt nicht beim Staat, sondern bei den Unternehmen. Unter normalen Umständen ist es nämlich so, dass die Privathaushalte sparen und damit den Unternehmen und dem Staat helfen, ihre Investitionen (bzw. einen Teil davon) mit Kredit zu finanzieren. Anders gesagt: Die Unternehmen kassieren normalerweise weniger, als sie zur Deckung all ihrer Ausgaben, inkl. Löhne, Dividenden und Investitionen brauchen.
Finanzierungsüberschüsse der Unternehmen
Seit zehn bis zwanzig Jahren ist das nicht mehr so: Weil die Unternehmen die Löhne drücken, die Steuern vermeiden, die Investitionen senken und die Preise dennoch hoch halten können, bleibt immer mehr Geld in ihren Kassen liegen. 2010 erzielten die Unternehmenssektoren namhafte Finanzierungsüberschüsse, so in Deutschland 4 Prozent, in den USA 4,5 Prozent, in Griechenland 8 Prozent und in der Schweiz 9 Prozent des jeweiligen BIP.
Das heisst, die privaten und staatlichen Kunden mussten bei den Unternehmen Kredit aufnehmen, um die Produkte bezahlen zu können. Und das Jahr für Jahr. In Deutschland etwa erzielen die Unternehmen seit 2002 ununterbrochen Finanzierungsüberschüsse, in Griechenland seit 2000, in der Schweiz wurde eine noch längere Serie 2008 wegen der Bankenkrise kurz unterbrochen.
Wer trägt die Schulden?
Bleibt nur noch die Frage, wer die entsprechenden Schulden machen kann bzw. gemacht hat. Die Schuldfähigkeit der privaten Haushalte ist beschränkt. Entweder sind sie so reich, dass die keine Schulden machen müssen; wenn nicht, ist ihre Kreditfähigkeit spätestens nach ein paar Jahren oder nach dem ersten Immobiliencrash erschöpft – siehe Subprime-Krise in den USA.
Bleiben nach den Regel der doppelten Buchhaltung noch zwei mögliche Schuldner: der Staat oder das Ausland. Oder, global gesehen, der Staat ausgewählter Länder wie Spanien, Italien, Griechenland, Spanien, aber etwa auch der USA und Grossbritanniens.
Ja und Nein zur praktizierten Krisenpolitik
Als Antwort auf die praktizierte Krisenpolitik heisst das konkret: Ja, wenn der Staat keine Schulden mehr machen darf, droht in der Tat eine tiefe Rezession. Ja, die Zentralbanken schinden bloss Zeit, wenn sie die Schulden der Staaten finanzieren. Ja, diese Zeit muss für Strukturreformen genutzt werden.
Es heisst aber auch: Nein, die «Flexibilisierung» der Arbeitsmärkte ist genau die falsche Reform. Sie führt bloss dazu, dass die Überschüsse der Unternehmen noch mehr steigen – siehe Griechenland. Dort betrugen diese Überschüsse 2012 nicht weniger als 17 Prozent des BIP. Ein Desaster, das allein auf die Kappe der «Krisenmanager» der Troika geht.
Die entscheidende Strukturreform würde darin bestehen, die Nettofinanzierungsüberschüsse der Unternehmen in Defizite umzuwandeln. Die Unternehmen sollten nicht viel mehr als die Hälfte ihrer Investitionen selbst finanzieren. Wie man dieses Ziel erreicht, ist eine Frage der Verteilung, also ein heisses Eisen, das die meisten Ökonomen und Politiker so sehr scheuen, dass sie darob sogar das kleine Einmaleins der Volkswirtschaft verdrängen.
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