Es war eine lange und laute Nacht in Paris und in zahlreichen anderen Städten Frankreichs. Endlose hupende Autokorsos, Kreuzungen, die von Feiernden spontan blockiert wurden, Metros, die aus den Nähten platzen. Sämtliche Pariser Buslinien hatten ab 18 Uhr ihren Betrieb eingestellt, da man Angst hatte, ausgelassene Fans könnten wieder, wie nach dem Halbfinale gegen Belgien, auf die Dächer der Busse steigen und sich jubelnd durch die Stadt kutschieren lassen.
Es wurde ein Freudenfest mit einigen Wermutstropfen: Fünf Menschen sind im Land bei Unfällen gestorben, Dutzende wurden verletzt, und in Paris kam es auf den Champs-Elysées zu Plünderungen von Geschäften durch Dutzende vermummte Jugendliche. Der berühmte Drugstore Publicis wurde kurz und klein geschlagen, der Einsatz von Tränengas beendete das Fest auf der Prachtstrasse früher als geplant. Auch in Lyon und Marseille kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und der Polizei.
Dabei hatte das Fussballfest in den Strassen der Hauptstadt sehr friedlich begonnen. Vor allem die junge Generation, die 18- bis 30-Jährigen, die den letzten Weltmeisterschaftstitel 1998 im eigenen Land nicht oder nicht wirklich miterlebt hatten, waren in Paris schon fünf Stunden vor Spielbeginn durch die Stadt gezogen und taten es zwölf Stunden später immer noch. Kaum einer, der nicht zumindest Spuren von Blau oder der blau-weiss-roten Fahne mit sich herumtrug. Die 100’000 Menschen fassende Fanmeile am Eiffelturm war schon drei Stunden vor Anpfiff des Finales gefüllt und die Champs-Elysées schon vor Spielende schwarz von Menschen.
Das Spiel
Sie alle bekamen ein turbulentes, für ein Finale ausgesprochen torreiches Spiel zu sehen, bei dem Frankreich deutlich weniger souverän agierte als im Halbfinale gegen Belgien und das Endergebnis von 4:2 den Spielverlauf nicht wiedergibt.
In den ersten 20 Minuten kamen Pogba und Co. kaum mal über die Mittellinie, wurden von sehr körperbetont agierenden Kroaten fast gegen die Wand gespielt, verloren erstaunlich viele Zweikämpfe und kamen in der Abwehr gleich mehrmals gefährlich ins Schwimmen. Und doch schoss Frankreich das erste Tor. Griezmann hatte einen nicht wirklich berechtigten Freistoss herausgeholt, führte ihn aus 20 Metern selbst aus und aus einer Traube von hochsteigenden Spielern beförderte der zurückgeeilte Mittelstürmer Kroatiens, Mandzukic, der Held des Halbfinales gegen England, den Ball ins eigene Netz. Kroatien liess sich jedoch nicht beeindrucken, spielte weiterhin schnell und passsicher und wirkte deutlich überlegen. Zehn Minuten später dann auch der Ausgleich durch den auf der linken Sturmseite kaum zu haltenden Ivan Perisic.
Eben dieser Ivan Perisic sollte zur nächsten tragischen Figur der Kroaten werden. Eine erneute Standardsituation, ein Eckball für Frankreich auf der rechten Seite, von Griezmann scharf getreten. Im Luftkampf mit Giroud ging Perisics Hand reflexartig zum Ball. Der Schiedsrichter deutete aber erst nach dem Videobeweis auf den Elfmeterpunkt. Griezmann schickte den Torwart in die falsche Ecke und verwandelte souverän.
Mit 2:1 ging es in die Pause, aus der Frankreich etwas standfester wieder zurückkehrte und nach einer Stunde Spielzeit mit einem spektakulären Doppelschlag das Spiel entschied. Ein gestern überragender Paul Pogba hatte den pfeilschnellen Mbappé auf die Reise geschickt und war mitgelaufen, erhielt vor dem Strafraum den Ball von Griezmann, sein satter Rechtsschuss wurde noch blockiert, bevor er den zurückspringenden Ball mit links wunderschön ins linke, obere Eck setzte. Und nur 5 Minuten später hatte dann der 22-jährige Linksverteidiger Hernandez, den vor wenigen Monaten in Frankreich noch kaum jemand kannte, seine grosse Szene. Nachdem er zwei Gegner aussteigen liess, kam seine Flanke zu Mbappé, der Kroatiens erfahrenen Libero mit einer Körpertäuschung einfach stehen liess und unhaltbar ins linke untere Eck schoss. 4:1.
Die Pragmatiker
Im gesamten Spiel verzeichnete Frankreich fünf Schüsse, die auf das Gehäuse der Kroaten abgegeben wurden, vier davon gingen ins Netz. Es ist vielleicht das sprechendste Beispiel für den Realismus und den Pragmatismus, den die Equipe Tricolore von Erfolgstrainer Didier Deschamps eingeimpft bekam und diesmal in Russland vorexerzierte. Sie bot kein besonders schönes und virtuoses Spiel, aber eben ein erfolgreiches, das auf einer felsenfesten Hintermannschaft und auf das Verteidigen aller, auch der Stürmer, beruht sowie auf den Kontern der schnellen Sturmspitzen Griezmann und Mbappé.
Am Ende von sieben Spielen der französischen Mannschaft bei dieser WM war klar: Didier Deschamps, nun Weltmeister als Spieler und als Trainer, hat sich ganz eindeutig vom Ballbesitzspiel mit Kurzpässen verabschiedet und es gleichzeitig geschafft, auch die virtuosen Individualisten in der Elf dazu zu bringen, sich hundertprozentig dem Kollektiv unterzuordnen. Die Art und Weise wie beispielsweise Paul Pogba, der Riese im defensiven Mittelfeld, von Anfang des Turniers an seine Spielweise geändert und auf seine Dribblings weitgehend verzichtet hatte, war in den Augen aller Experten mehr als bemerkenswert.
Der unspektakulär und verhalten auftretende Didier Deschamps hat Grosses geleistet, seit er 2012 die Nationalmannschaft übernommen hat. Er hat es geschafft, ein Kollektiv zu formen, vielleicht nicht aus den besten Spielern des Landes, aber aus denen, die im Kollektiv am besten zusammenpassen. Und er hat dabei ganz überwiegend auf eine neue, junge Generation gesetzt. Frankreichs Nationalelf, die lange Jahre von Eklats und Skandalen erschüttert wurde, hat dabei in den letzten Monaten, pünktlich vor der WM, auch wieder einen echten, nicht zu übersehenden Teamgeist entwickelt. Auch das ist das Verdienst von Didier Deschamps.
Und als hätten Frankreichs Weltmeister gestern definitiv verstanden, welchen Anteil Deschamps an ihrem Erfolg hat, liessen sie ihren Trainer hochleben auf eine Art und Weise, wie man es bei einer WM noch nie erlebt hat: Nicht nur, dass sie ihn schon vor der hinausgezögerten, etwas peinlichen Cup-Verleihung im strömenden Regen patschnass in die Luft geworfen haben. Vielmehr tauchten alle 23 Spieler plötzlich geschlossen bei Deschamps’ Pressekonferenz auf und feierten ihn dort minutenlang vor der versammelten Weltpresse
„Wir sind vielleicht kein schöner Weltmeister, aber wir sind Weltmeister“, hatte Deschamps dort betont und auch daran erinnert, dass sein Team vor zwei Jahren bei der EM im Finale schön gespielt hatte und die bessere Mannschaft war, am Ende aber mit 0:1 gegen Portugal verloren hatte – eine Niederlage beim Turnier im eigenen Land, die Deschamps nie verdaut hatte und aus der er ganz offensichtlich die richtigen Konsequenzen gezogen hat.
Macrons Show
Frankreichs Präsident, der vor dem Endspiel noch kurz Wladimir Putin im Kreml besucht hatte, bevor der heute sein höchstwahrscheinlich antieuropäisches Treffen mit Trump im europäischen Helsinki abhält, sorgte wieder einmal dafür, dass die besten Bilder von ihm unmittelbar nach Hause gepostet wurden.
Der Elyséephotograph zeigte Macron als entfesselten Fan, der auf einen Tisch springt und die Faust ins weite Rund reckt, der mit der französischen Mannschaft gelitten und gejubelt hat. Und bei der Cup-Verleihung stand er heldenhaft und klitschnass im Sturzregen und liess es sich nicht nehmen, jeden einzelnen Spieler ausführlich zu herzen. Anschliessend stellte der Pressedienst des Elyséepalastes auch noch ein Video vom obligatorischen Besuch in der Kabine mit präsidialer Ansprache ins Netz, zu dem Macron einen in Mali schwer verletzten französischen Soldaten mitgebracht hatte. Ein Aufeinandertreffen von zwei Sorten von Kriegern für die Nation?
Rückkehr
Heute um 17 Uhr geht das Fest in Paris weiter, und es wird ein Remake von 1998 geben. Die Weltmeister werden im offenen Bus die Champs-Elysees hinabfahren, dann vor der Place Concorde schon links abbiegen und zum Empfang beim Staatspräsidenten im Elysée erscheinen. Emmanuel Macron, tatsächlich ein Fussballfan und Anhänger von Olympique Marseille, lässt es sich selbstverständlich nicht entgehen, vom Glanz der neuen Weltmeister eine Brise mitzunehmen. Vor zwanzig Jahren waren die Sympathiewerte für den damaligen Hausherrn im Elysée, Jacques Chirac, für wenige Monate ganz deutlich in die Höhe gegangen. Es ist fraglich, ob sich dies im Fall von Macron wiederholen wird.
Auch wenn gestern und in der vergangenen Nacht das bunte, vielfarbige Frankreich und auch die berüchtigten Vororte den Weltmeistertitel ihrer Equipe Tricolore ausführlich gefeiert haben, so wird man zwei Jahrzehnte nach 1998 nicht ein weiteres Mal denselben Fehler begehen und vorgeben, der Weltmeistertitel einer ebenfalls vielfarbigen Nationalmannschaft könnte die seitdem sogar grösser gewordenen Brüche in der französischen Gesellschaft kitten. Das Beschwören des Erfolgs der Black-Blanc-Beurs-Mannschaft von 1998 als Symbol einer gelungenen Integration war eine eindeutige Übertreibung und Fehleinschätzung. Vier Jahre später kam Jean Marie Le Pen in die Stichwahl, 2005 brannten die Vororte.
Inzwischen dürfte man auch in Frankreich gelernt haben, dass eine WM eben doch nur Fussball und bestenfalls ein Sommermärchen ist. Spätestens nach den Ferien Anfang September wird man im grauen Alltag nicht mehr viele Spuren von der Freude und dem Optimismus eines Moskauer Abends und eines ausgelassenen Festes in Frankreich finden.