Der Vorteil einer solchen Forderung besteht darin, dass niemand etwas dagegen haben kann. Denn was mit einem Narrativ genau gemeint ist, liegt in wohltuender Dunkelheit. Das Wort jedenfalls klingt gut, und niemand befürchtet, dass damit Schaden angerichtet werden könnte.
Natürlich verbindet sich mit diesem Wort eine vage Vorstellung. Die besteht darin, dass das eigene Anliegen in möglichst positivem Licht erscheinen soll, so dass sich möglichst viele Leute dafür begeistern. So fordern insbesondere Europapolitiker ein neues Narrativ, damit die Rechten und Populisten mit ihren Erzählungen der „Kleinen Leute“ das grosse Ganze der politischen Idee Europas nicht kaputt reden. Recht so.
Der Haken besteht aber darin, dass ein Narrativ sich nicht so einfach fabrizieren lässt wie eine Hochglanzbroschüre. Denn die Historiker und Sozialwissenschaftler, die diesen Begriff aufgebracht haben, meinten damit „grosse Erzählungen“, die davon handeln, wie wir wurden, was wir sind. In den Narrativen spiegeln Kulturen sich selbst, indem sie von Siegen und Niederlagen erzählen. Diese Erzählungen wachsen wie von selbst und werden von Generation zu Generation weitergegeben. Pointiert liesse sich sagen: Narrative sind Geschichten, an die wir glauben.
Sprache kann mehr, als viele meinen, die sie arglos benutzen. Die Forderung nach neuen Narrativen macht unfreiwillig auf einen Mangel aufmerksam, der weit grösser ist, als die Protagonisten meinen. Im Falle von Europa besteht er in der inneren Leere, die sich einstellt, wenn die Funktionäre wieder einmal erzählen, wie unentbehrlich sie sind.