Chokri Belaïd, Mohamed Brahmi und wer ist der Nächste? Das fragen sich die Journalisten und mit ihnen die Bevölkerung Tunesiens. Belaïd und Brahmi – beide Angehörige von wichtigen politischen Institutionen – wurden auf die gleiche Art und Weise an ihrem Wohnort direkt vor ihrer Haustüre kaltblütig erschossen.
Der Generalsekretär des linksgerichteten Mouvement Populaire Tunisien, Mohamed Brahmi, war Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung und scharfer Kritiker der islamistischen Partei Ennahda. Er galt wie Belaïd als Aushängeschild der Opposition. Brahmi stammte aus Sidi Bouzid. Das ist Stadt im Süden von Tunesien, in der die Demonstrationen gegen das Ben Ali-Regime begonnen haben.
Gegen die Republik als Staatsform
Die Täter kamen und flüchteten auf einem Motorrad. Und sie wählten für den Mord an Mohamed Brahmi einen symbolträchtigen Tag: Er wurde am Tag der Republik ermordet. Der 25. Juli ist der Gedenktag an die Republikgründung Tunesiens unter Habib Bourguiba.
Die Tat ist ein Zeichen der grösstmöglichen Geringschätzung gegenüber dem gegenwärtigen politischen Prozess, der eine neue Verfassung und Neuwahlen als Resultat vorsieht. Unabhängig von den politischen Querelen rund um die Verfassung und die Legitimität der parlamentarischen Versammlung, die diese ausarbeiten soll, zeigt sich mit diesem zweiten Attentat auf die politische Opposition vor allem eines: Den Mördern und ihren Hintermännern liegt nichts daran die Republik als Staatsform für das neue Tunesien anzuerkennen.
Die Unsicherheit in der Bevölkerung schüren
Nachdem Chokri Belaïd als Mitglied des Behörde zur Einhaltung der Ziele der Revolution im Februar 2013 ermordet worden war, wäre es zentrale Aufgabe der Übergangsregierung unter der Ennahda gewesen, sich um die Sicherheit von Politikern zu kümmern. Auch um die Sicherheit von Politikern, welche die dominierende islamistische Partei Ennahda aus grundsätzlichen Überlegungen kritisieren.
Nach diesem zweiten tödlichen Attentat auf ein Mitglied der politischen Institutionen kann man konstatieren: Die Sicherheit von Oppositionspolitikern hat für die Ennahda offensichtlich keine Priorität.
Man kann die Stimmen verstehen, die der islamistische Partei unterstellen, sie sei daran interessiert, die Unsicherheit in der Bevölkerung zu schüren. Die Partei wurde bereits nach der Ermordung von Belaïd beschuldigt, durch ihre Untätigkeit gegenüber gewaltbereiten und kriminellen politischen Kreisen eine Mitschuld zu tragen.
Kein Verantwortungsbewusstsein für Andersdenkende
Auch wenn die Ennahdah nicht ohne polizeiliche Untersuchungen für die Attentate verantwortlich gemacht werden kann, wundern kann man sich über diese Stimmen nicht. Ennahdah hat es verpasst, Signale auszusenden und griffige Massnahmen zu ergreifen, die für politisch Andersdenkende zu einer erkennbare Verbesserung ihrer Situation geführt hätte.
Damit steht die Ennahdah erneut im Zentrum von Gerüchten und Schuldzuweisungen. Das hat sie sich grösstenteils selber zuzuschreiben. Ein entschiedenes und rasches Vorgehen in der Aufklärung der beiden politischen Morde (auf die Ergreifung der Mörder von Belaïd wartet die Öffentlichkeit noch immer) sowie das Aufzeigen von Massnahmen, die künftige politische Attentate verhindern könnten, wäre jetzt das absolute Minimum, das die Islamisten vorlegen müssten.
Zeigt die Ennahdah weiterhin kein Verantwortungsbewusstsein für andersdenkende Politiker und deren Wählerschaft, muss sie sich nicht wundern, wenn sie auch bei ihren eigenen bisherigen Wählern an Sympathien einbüsst und weitere Kreise sich dem Ruf nach der Auflösung des verfassungsgebenden Parlaments anschliessen.
Der Umgang mit diesen beiden politischen Morden wird der Bevölkerung Tunesiens und auch den politischen Partnerländern zeigen, wie echt die Absichten Ennahdas sind, ein pluralistisches politisches Klima zuzulassen. Die Partei ist genau daran zu messen.