„Können Sie eine genaue Specialkarte von dem Waldstättensee und den umliegenden Cantons mir verschaffen, so haben Sie die Güte sie mir mitzubringen.“ Das schreibt Friedrich Schiller in einem Brief an seinen Verleger Cotta im März 1802.
Schiller vollendete den Wilhelm Tell in seiner Mansarde in Weimar. Er schrieb das Stück, ohne jemals einen Fuss auf Schweizer Boden gesetzt zu haben. Umso erstaunlicher ist die Vielzahl und Genauigkeit der Ortsangaben im Drama. Er muss seine „Specialkarten“ mit der Lupe studiert haben, um herauszufinden, wie die Urner, Schwyzer und Nidwaldner zu Land und zu Wasser aufs Rütli kamen. Oder wie der Melchthal-Arnold auf Saumpfaden von Attinghausen über den Surenpass nach Engelberg ging.
Die Kulturhistorikerin Barbara Piatti versucht, Schiller in Weimar „über die Schulter zu schauen“, um den Entstehungsprozess des Dramas zu rekonstruieren. Sie sieht ihn vor sich in seiner Stube in Weimar, zwischen Bergen von Informationsmaterial jener Zeit: Bücher, Stiche, Briefe, kartographisches Material.
„Firnen, sie glänzen wie Glas“
Schiller liess kein Detail unbeachtet. Ein Beispiel aus seinen Notizen: „Es giebt Berge (Gletscherberg) die bloss aus Eis bestehen, Firnen, sie glänzen wie Glas (...). Gemsen weiden gesellschaftlich – Vorgeiss, pfeift wenn Gefahr ist – ihre Zuflucht unter Felsvorsprüngen.“
Unter den verschiedenen damals erhältlichen Werken, die Schiller konsultierte, war zweifellos das in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstandene Cronicon Helveticum des Historikers Aegidius Tschudi. Dort findet sich die Szene der Hohlen Gasse: „Er aber hat sin armbrust gespannen und durchschoss den landtvogt mit einem pfil, das er ab dem ross fiel und von stund an tod was.“
Schiller habe von einer Reise in die Schweiz geträumt, um die Details zu überprüfen, schreibt Piatti: „Aber im Grunde seines Herzens ahnt er schon, dass er überhaupt nirgends mehr hinreisen wird. Der Tell wird sein letztes vollendetes Stück sein, dessen Uraufführung am 17. März 1804 er noch erleben wird.“
Unmittelbar danach setzte eine literatur-touristische Bewegung ein. Das Stück wurde kurioserweise zum Reiseführer durch die Landschaft des Vierwaldstättersees, die Schiller nie gesehen hatte. Eine Wilhelm-Tell-Ausgabe im Taschenformat gehörte fortan ins Gepäck eines jeden Reisenden. Tellplatte, Rütli, die Hohle Gasse und Altdorf wurden zu vielbesuchten Sehenswürdigkeiten, obligatorisch war die Besichtigung des “Tatorts Apfelschuss”.
Piattis Text ist einer von 22 Beiträgen in einem Buch des Rotpunktverlages, welches literarische Wanderungen in der Schweiz thematisiert. Herausgeber ist Andreas Simmen, der über dreissig Jahre lang als Programmleiter den Verlag massgeblich mitgeprägt hat.
„Literatur und Landschaft passen gut zusammen, denn die meisten Prosatexte, Dramentexte und selbst viele Gedichte kommen nicht ohne Orte aus – Landschaften, Städte, Gewässer, Berge, Meer“, schreibt Simmen im Vorwort. Er warnt aber vor einem oberflächlichen Verständnis. Es handele sich um „ein hochkomplexes Verhältnis, denn die Literatur bildet nicht ab, sondern erfindet die Landschaften teils neu oder lässt sie durch die Romanfiguren ihrer Gemütslage entsprechend ganz unterschiedlich wahrnehmen.“
Georg Büchner fällt einem ein: „Den 20. ging Lenz durchs Gebirg ...“ heisst der erste Satz in der Novelle, in der Wetter und Landschaft die schwere Depression des Wanderers reflektieren.
Oder die Walliser Schriftstellerin S. Corinna Bille, die in ihren Texten stets „auf der Suche nach der inneren Landschaft“ war.
Und Robert Walser schrieb: „Ohne Spazieren wäre ich tot.“
Literarische Wanderungen
Es geht also um Texte über Landschaften oder die in Texten erkennbaren Landschaften. Sie sind Zeugen einer Kultur und einer Geschichte, und sie geben gleichzeitig Auskunft über das Verhältnis einer literarischen Figur zu dieser Landschaft. Vielleicht ist es Verbundenheit, vielleicht Liebe, vielleicht Schmerz. Auch Heimat kann bekanntlich dort sein, wo es weh tut.
Die Literatur-Wanderungen sind ein Genre, auf das der Rotpunktverlag seit langem fokussiert hat. Das jetzt erschienene Buch ist eine Anthologie von 17 Autoren, darunter bekannte Namen wie Beat Hächler, Direktor des Alpinen Museums in Bern, Dominique Strebel, Leiter der Schweizer Journalistenschule MAZ, der verstorbene Jürg Frischknecht, zusammen mit Ursula Bauer Autor zahlreicher Kultur-Wanderbücher, Emil Zopfi, Kletterer und Autor von Alpenkrimis, Christa Zopfi, Margrit Sprecher und andere, die sich seit langem mit der Thematik befassen.
Kennzeichnend für dieses Literaturverständnis ist, dass die Annäherung per pedes erfolgt. Die Autorinnen und Autoren wandern den Wegen nach, die in einer Erzählung oder einem Roman vorkommen. Sie gehen zu Fuss auf den Spuren literarischer Figuren. Sie folgen den Schilderungen von Friedrich Nietzsche auf der Lenzerheide, Karl Kraus in Glarus, Rainer Maria Rilke im Rhonetal, Hermann Hesse und Erich Mühsam auf dem Monte Veritá oder Robert Walser im Appenzellerland.
Der geheimnisvolle Johannes Seluner
Emil und Christa Zopfi gehen den Churfirsten entlang über die Alp Selun bis nach Unterwassser im Toggenburg. Sie durchqueren eine karstige Felslandschaft, in der es die berüchtigten Dolinen gibt, Felslöcher, die einige hundert Meter tief sein können. Der Weg führt zum sagenumwobenen Wildmannlisloch, einer riesigen Karsthöhle. 1932 fanden die Forscher dort die Überreste von rund fünfzig Höhlenbären. Die Knochen lagen verstreut, Schädel fand man am Ende der Höhle. Das Wildmannlisloch war vor rund 40‘000 Jahren eine Wohnhöhle von Jägern, die zum grossen Teil vom Fleisch der Bären lebten.
In dieser Gegend wurde 1844 ein etwa zwanzigjähriger verwilderter Mann unbekannter Herkunft entdeckt. Weil er nicht sprechen und sich mitteilen konnte, gab man ihm den Namen Johannes Seluner, in Anlehnung an den Ort St. Johann und die Alp Selun. Er wurde der Gemeinde Nesslau zugeteilt und starb 1898 in der Armenanstalt. Der „Findling“ wurde bald zum Gegenstand der wildesten Phantasien und Gerüchte. Er wurde zum Kaspar Hauser des Toggenburgs. Christa und Emil Zopfi verweisen auf die Journalistin Rea Brändle, die den Fall Johannes Seluner gründlich untersucht und darüber mehrfach publiziert hat.
„In den Jahren nach seinem Tod wurde er zur geheimnisvollen Figur. Eine Mischung aus Mitleid mit dem ausgesetzten hilflosen Menschen und Furcht vor ihm bot unerschöpflichen Stoff. Man rückte ihn in die Nähe von Wolfskindern, die Milch von wilden Tieren trinken, und stellte sich vor, dass er im Wildmannlisloch gelebt habe.“
„Spazieren muss ich unbedingt“
Robert Walser verbrachte seine letzten Lebensjahrzehnte in der psychiatrischen Klinik in Herisau. Mit seinem Vormund Carl Seelig unternahm er ausgedehnte Wanderungen. 1986 wurde entlang dieser Wanderungen ein „Literaturweg“ eingerichtet. Es ist ein Erinnerungsweg, auf dem man Tafeln mit biographischen Angaben und Zitaten aus Walsers Werk findet. Initiant war der aus Teufen stammende Schriftsteller Peter Morger. In seinem autobiographisch gefärbten Roman „Die unheimliche Freiheit“ schreibt Morger:
„Andere Mansardenbewohner machten Selbstmord; Lenin machte Revolution. Robert Walser zog früh am Morgen seinen Militärmantel an, setzte sich an den Tisch und verfasste verschraubte, verzirkelte, verschnörkelte Prosastücke. Er sandte jeden Tag verschiedene Couverts an verschiedene Feuilleton-Redaktionen. An den Füssen trug er Pantoffeln, die er aus Kleiderabfällen selbst gefertigt hatte. Er schrieb lieber über seinen Ofen, als dass er ihn heizte. Nur manchmal, wenn ein böser Schneesturm über die Dächer raste, liess er für fünfzig Centimes im Tag einfeuern.“
Robert Walser war ein rastloser Wanderer. In seinem Stück „Der Spaziergang“ schrieb er: „Spazieren, gab ich zur Antwort, muss ich unbedingt, um mich zu beleben und um die Verbindung mit der lebendigen Welt aufrechtzuerhalten, ohne deren Empfinden ich keinen halben Buchstaben mehr schreiben und nicht das leiseste Gedicht in Vers oder Prosa hervorbringen könnte.“
Andreas Simmen (Hg.): Wunderbar schwerelos zeigt sich die Welt. Literarische Wanderungen in der Schweiz, Rotpunktverlag 2018, 344 S., mit Routenskizzen und Serviceteil.