Der Historiker Benjamin Carter Hett leuchtet die Eskalations-Spirale aus, die zum Zweiten Weltkrieg geführt hat – was durchaus Parallelen birgt zu den aktuellen Spannungen um die Ukraine.
Am Ende braucht man doch einen Vorwand, um einen Krieg anzufangen. Auch Hitler braucht ihn, nachdem es ihm gelungen ist, über einen Nichtangriffspakt samt geheimem Zusatzprotokoll die Sowjetunion zum Partner auf Zeit zu machen. Stalin wie Hitler haben Osteuropa unter sich aufgeteilt, jetzt muss Hitler nur noch verhindern, dass ihm «irgendein Schweinehund einen Vermittlungsplan vorlegt», wie er seinen Militärs erklärt. Er denkt an den britischen Premierminister Neville Chamberlain, der ihn im Herbst 1938 zum Münchner Abkommen genötigt hatte.
Jetzt, ein Jahr später, sucht Hitler die Entscheidung, und die Lösung bringt ein vorgetäuschter polnischer Angriff auf den deutschen Radiosender in der Grenzstadt Gleiwitz am frühen Morgen des 1. September 1939. Er setzt die deutschen Truppen in Marsch, zieht Frankreich und Grossbritannien in den Krieg, und, in einer nächsten Phase, auch die Sowjetunion und die USA.
Worüber die führenden Köpfe nachdenken
Wer heute mit Sorge in die Ukraine schaut, und sich fragt, ob die Zeichen gerade auf Eskalation oder Deeskalation stehen, blickt vielleicht auch mit Interesse auf jene Geschichte, die der amerikanische Historiker Benjamin Carter Hett in «Eskalationen. Wie Hitler die Welt in den Krieg zwang» zu erzählen hat. Er konzentriert sich auf die führenden Köpfe, auf ihre Überlegungen und Motive sowie auf die Sachzwänge, denen sie unterliegen.
Da ist Adolf Hitler, der schon früh davon spricht, Deutschland müsse Lebensraum im Osten erobern – ein Projekt, das einzuhegen den führenden Militärs nicht gelingt. Zwei Mal stehen sie kurz davor, einen Militärputsch zu wagen. Zwei Mal schrecken sie davor zurück und lassen den Dingen ihren Lauf.
Da sind, auf der anderen Seite, die Engländer, die unter Neville Chamberlain den unheilvollen Deutschen zu besänftigen suchen, auch um Zeit zu gewinnen für die eigene Aufrüstung. Chamberlain denkt in den Bahnen herkömmlicher Machtpolitik, während sein partei-interner Gegenspieler Winston Churchill erkennt, dass die Nationalsozialisten von ganz anderem Kaliber sind.
Der wichtigste Mann an der Seitenlinie
Lange bleibt Churchill mit seinen Warnungen in der stolzen Seefahrer-Nation mit ihrem weltumspannenden Imperium ein einsamer Rufer in der Wüste. Bis sich zeigt, dass auch das Münchner Abkommen den deutschen Expansionsdrang nicht zu stoppen vermag. «Chamberlain rettete Hitler», stellen die deutschen Verschwörer bitter fest, und der tschechoslowakische Staatspräsident Edvard Beneš konstatiert empört: «Es ist ein Verrat, der seine Strafe in sich birgt.»
Mit dem deutschen Angriff auf Polen naht die Stunde, da England bezahlen muss. Chamberlain muss Churchill in sein Kabinett aufnehmen, und der nimmt sehr rasch ein Gesprächsangebot von US-Präsident Franklin Delano Roosevelt an. Roosevelt hat die Entwicklung von der Seitenlinie verfolgt – verfolgen müssen, denn ihm sitzt ein isolationistisch gesinnter Kongress im Nacken, und die Nazis können auch in den USA auf eine stattliche Zahl von Anhängern zählen. Doch Roosevelt ist längst klar, was Churchill ihm noch einmal verdeutlicht, nachdem er Chamberlain von der Regierungsspitze verdrängt hat: Sollte Grossbritannien untergehen, dann würde Hitlerdeutschland in den Besitz seiner Flotte gelangen und die USA geradewegs angreifen können.
Was will Stalin? Und was kann er?
Souverän beschreibt Benjamin Carter Hett jene Lernprozesse, die zu einer allmählichen politischen Frontbegradigung führen, bei der die wichtigste Frage lautet: Was will eigentlich Stalin? Und wozu ist er noch fähig, nachdem er in seinen Säuberungen Zehntausende von Offizieren hat umbringen lassen? Hitler weiss genau, dass seine grösste Chance darin liegt, seine Gegner rasch niederzuringen. Denn an Ressourcen sind sie ihm überlegen. Genau deshalb aber scheitert er: Zuerst gegenüber England, dann im Krieg gegen die Sowjetunion.
Benjamin Carter Hett: Eskalationen. Wie Hitler die Welt in den Krieg zwang. Reclam Verlag 2021