Die Welt rätselt über die Motive und Ziele von Putins Powerplay gegenüber der Ukraine und der Nato. Unterschiedliche Deutungen und Theorien werden herumgeboten. Doch manches spricht dafür, dass der Kremlchef auf einer Klaviatur spielt, bei der mehrere Register gleichzeitig bedient werden.
Ein Skype-Gespräch dieser Tage mit einem alten Freund in St. Petersburg, mit dem ich seit über vierzig Jahren verbunden bin. Was hat Putin im Sinn mit seinen Drohgebärden gegenüber der Ukraine und seinen Forderungen an die Nato, will ich von ihm wissen. Der Freund, ein Literaturwissenschafter, ist kein Putin-Verehrer. Nein, einen offenen Krieg mit der Ukraine will Putin nicht riskieren, meint er, das wäre mit zu vielen Risiken verbunden. Aber natürlich geniesse er es, wenn man im Westen darüber rätselt und sich die Menschen Sorgen machen, was der Machthaber in Moskau wohl im Schilde führe. Das gefalle auch vielen seiner Landsleute und schmeichle ihrem nationalen Selbstbewusstsein, bemerkt der Petersburger Freund. Im Übrigen macht er aus seinem persönlichen Unmut kein Hehl über das militante Kreml-Theater um die Ukraine und die seiner Meinung nach unentschlossene Haltung im Westen. Wie die Konfrontation aber weitergehen wird, weiss auch er nicht.
Gekränktes Imperium?
Es sind innerhalb und noch mehr ausserhalb Russlands vielerlei Meinungen zu vernehmen, was Putin eigentlich erreichen will mit seinem geballten Protest gegen die angebliche Bedrohung Russlands durch die Nato und seiner apodiktischen Forderung nach einem definitiven Verzicht der Ukraine an einer westlichen Bündnisbeteiligung sowie dem Rückzug sämtlicher ausländischer Kräfte aus dem Territorium osteuropäischer Nato-Mitglieder. Einige Kommentatoren meinen, es gehe dem Kreml um die Wiederherstellung der Einflusskontrolle in jenen Ländern, die zum früheren sowjetischen Imperium gehört hatten. Andere Auguren wie der frühere Russland-Korrespondent der «Zeit», Michael Thumann, behaupten, es gehe Putin «um nichts Geringeres als den Umbau Europas – ohne die USA».
Weitere Erklärungen für Putins Drohkulisse gegenüber der Ukraine und seine ungeduldigen Forderungen an die Nato-Adresse führen dieses Verhalten auf Moskaus angebliche Kränkungen nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches zu Beginn der 1990er Jahre zurück. Minutiös werden in diesem Zusammenhang alte Gesprächsprotokolle zitiert, nach denen bei den Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands damalige Akteure wie der frühere US-Aussenminister Baker oder sein deutscher Amtskollege Genscher erklärt hätten, dass die Nato sich um keinen Meter weiter nach Osten ausdehnen werde.
Es stimmt, dass die Nato gegen den Willen Moskaus erweitert wurde. Vielleicht war das, wie der Kolumnist Thomas Friedman in der «New York Times» schreibt, tatsächlich eine voreilige Entscheidung. Mit Absichten zur Einkreisung Russlands aber hat sie nichts zu tun, auch wenn das die «Putin-Versteher» gern behaupten. Der Hauptgrund für die Nato-Ausdehnung waren vielmehr die Wünsche der früheren Ostblockstaaten, die mehr Sicherheit gegenüber der alten Hegemonialmacht anstrebten.
Tatsache bleibt, dass mündlichen Zusagen in den 1990er Jahren zur Nichterweiterung der Nato in keinem Vertrag festgeschrieben wurden, juristisch somit nicht einklagbar sind. Wenn schon von unerfüllten Zusagen die Rede sein soll, dann müssten auch das Memorandum von Budapest und andere Abkommen erwähnt werden, in denen Russland ausdrücklich die territoriale Integrität der Ukraine garantiert hatte – mit Unterschrift und nicht als blosse Gesprächsäusserung.
Gegen demokratische Ansteckungen
Andere Exegeten von Putins Seelen- und Interessenlage machen geltend, westliche Politiker hätten die Kremlführung in früheren Jahren generell zu wenig respektiert und den Dialog mit Moskau nicht ausreichend gepflegt. Putins forsches Agieren sei nun die Quittung für solche Vernachlässigungen. Einer detaillierteren Überprüfung halten solche Darstellungen kaum stand. Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Putin Dutzende Male zu Gesprächen getroffen. Selbst nach der russischen Annexion der Krim hat sie den Dialog mit ihm stets aufrechterhalten.
Kein US-Präsident hat nach der Auflösung der Sowjetunion ein Treffen mit dem russischen Staatsoberhaupt verweigert. Präsident Obama machte allerdings den Fehler, dass er Russland einmal als «Regionalmacht» bezeichnete – aber ist das ein ausreichender Grund für selbstbewusste Machtmenschen, als den sich Putin gerne in Szene setzt, sich jahrelang beleidigt zu fühlen? Ausserdem haben sowohl die Nato als auch die EU früh Kontaktgremien mit Russland institutionalisiert, mit denen der Austausch über mögliche Annäherungen und gemeinsame Projekte gefördert und vertieft werden sollte. Die Verantwortung dafür, dass diese Gesprächsmechanismen in den letzten Jahren immer weniger benützt worden sind, liegt gewiss nicht einseitig auf westlicher Seite.
Eher überzeugend scheint das Argument, dass der Kreml gegen die Ukraine und ihre Hinwendung nach Westen deshalb so offensiv reagiert, weil er eine Festigung demokratischer Verhältnisse in diesem Nachbarland und deren Sogwirkung in Russland unbedingt verhindern will. Ähnliche Überlegungen spielen offenbar auch bei der bedingungslosen Unterstützung Moskaus für den weissrussischen Diktator Lukaschenko und beim Eingreifen russischer Truppen in Kasachstan eine Rolle.
Rückkehr zur slawophil-orthodoxen Herrschaftstradition
Die meiner Ansicht nach bedeutsamste Erklärung für die zunehmende Entfremdung zwischen Russland und dem Westen aber dürfte in Putins Hinwendung zur slawophil-orthodoxen Denktradition zu finden sein. Der Kremlherr begann sich mit dieser Tradition zu identifizieren, als ihm bewusst wurde, dass er sich als echter Demokrat nicht unbegrenzt an der Macht halten konnte und deshalb sein System der autoritären «Machtvertikale» etablierte. Die autoritär-orthodoxe Tradition ist in der russischen Geschichte stark verwurzelt. Sie hatte auch während der Sowjetherrschaft wesentlichen Einfluss.
Diese Tradition wird von der Überzeugung getragen, dass Russland und die von Byzanz übernommene christlich-orthodoxe Kirche sich grundlegend von der westlichen Welt und ihren römisch-aufklärerischen Werten unterscheidet. Grosse russische Geister wie Dostojewski und Solschenizyn waren von diesen Überzeugungen durchdrungen. Sie plädierten eindringlich dafür, Russland auf heilsame Distanz zum Westen und seinem vom wahren Glauben abweichenden, materialistisch-dekadenten Entwicklungsweg zu halten.
Der Zürcher Osteuropa-Historiker Carsten Goehrke meint denn auch in seiner fundierten russischen Strukturgeschichte, «die eigentliche Weichenstellung» für die vom Westen so stark abweichende Macht- und Kulturtradition Russlands gehe auf die Entscheidung des Fürsten Wladimir I. von Kiew für die oströmische Kirche zurück.
Ob Putin als ehemaliger kommunistischer Geheimdienstfunktionär selber an solche religiös-slawophile Denkschemen glaubt, bleibt unklar. Tatsache ist, dass er mit der Kultivierung dieser Traditionsmuster bewusst Politik macht, weil er weiss, dass er damit weitherum im russischen Volk viel nostalgische Resonanz findet und patriotische Gefühlswellen aktivieren kann. Nachdem er als Antwort auf den Maidan-Umsturz in Kiew vor acht Jahren, den er als russlandfeindlich empfand, kurzerhand die Krim annektieren liess, hat dieser rückwärtsgewandte nationale Gefühlsüberschwang gut funktioniert. Ob das auch bei einem erweiterten Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine ähnlich klappen würde, halten manche Beobachter für sehr zweifelhaft. Ein nachhaltiges Rezept zur Sicherung einer kreativen und innovativen Zukunft seines Landes hat der Langzeitherrscher Putin mit dieser brachialen Expansionsstrategie jedenfalls kaum in der Hand.
Kein Vetorecht gegen eine EU-Annäherung der Ukraine
Indessen sollte man sich auch bewusst sein, dass Putins Powerplay gegen die Ukraine und die Nato nicht von einem Inspirationsmuster allein angetrieben wird. Diese Maschine wird durch multiple Beweggründe und Zielvorstellungen in Gang gehalten, in der sich innen- und aussenpolitische, historische, strategische, ideologische und persönliche Rechnungen des Moskauer Autokraten gegenseitig überlagern.
Die Einsicht in diese komplexen Zusammenhänge sollte auch die Reaktionen im Westen auf die russische Forderungsoffensive beeinflussen. Sie sollten von Festigkeit im Prinzipiellen, aber auch von Fingerspitzengefühl im Detail und Geduld im Dialog bestimmt sein. In einem entscheidenden Punkt aber muss Klarheit verlangt werden: Mögliche Einschränkungen zur Bündnisfreiheit der Ukraine sind höchstens dann diskutabel, wenn Moskau gleichzeitig bereit ist, eindeutige Nichtangriffsgarantien gegenüber diesem Nachbarland zu unterschreiben. Eine spätere Mitgliedschaft der Ukraine in der EU, der auch militärisch neutrale Länder angehören, darf zudem durch kein unbegrenztes russisches Veto versperrt bleiben.