Alle, Politiker, Medienleute, Medienkonsumentinnen und -konsumenten, fragen sich wohl tagtäglich, was der russische Präsident sich angesichts der Vielstimmigkeit westlicher Regierungen rund um die Ukraine-Krise denkt. Wahrscheinlich lacht er sich immer von Neuem entweder ins Fäustchen oder sogar laut und offen.
Und manches ist tatsächlich zum Lachen, auch für uns im Westen. Etwa, dass die deutsche Verteidigungsministerin, anstelle der erwarteten Waffen, ein paar tausend Helme nach Kiew schicken will. Oder dass österreichische Minister krampfhaft an der Fiktion festhalten, die Nord-Stream-2-Erdgasleitung sei ein rein wirtschaftliches Thema, es habe mit Politik nichts zu schaffen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nimmt er wohl auch zur Kenntnis, dass Frankreichs Präsident weiterhin auf einen politischen Dialog hofft.
Spekulationen
Jetzt hat er einen weiteren Anlass, sich über die Weltlage zu freuen – Grund sind die durchgesickerten Informationen vom Ferngespräch zwischen US-Präsident Biden und dem ukrainischen Präsidenten Selenskyi vom Donnerstag. Ein so genannter «Senior Ukrainian Official» gab dem US-Nachrichtensender CNN zu Protokoll, Selenskyi habe geäussert, das Gespräch sei «nicht gut» verlaufen. Sogleich konterte das Weisse Haus, das Gespräch sei «offen» gewesen und habe lange (fast eineinhalb Stunden) gedauert, weil man viele Themen «seriös» angesprochen habe. Dann folgte, in der US-amerikanischen Darstellung, ein Satz, der zu Spekulationen über die Tonart Anlass geben muss: Präsident Biden habe daran erinnert, dass die USA der Ukraine im vergangenen Jahr humanitäre und wirtschaftliche Hilfe im Umfang von einer halben Milliarde Dollar haben zukommen lassen. Muss / soll / darf man daraus schliessen, Präsident Biden habe seinen ukrainischen Partner darauf hinweisen wollen, dass sein Land eigentlich schon fast genug geleistet habe?
Armut trotz grosszügiger Hilfen
So weit möchte ich nicht spekulieren. – Tatsache ist allerdings, dass westliche Länder, also nicht nur die USA, der Ukraine nicht erst seit dem letzten Jahr, sondern seit längerer Zeit sehr grosszügig Unterstützung gewährt haben. Und dass, ebenfalls seit Jahren, immer wieder die Frage gestellt wird, ob die Ukraine nicht, sinnbildlich, ein Fass ohne Boden sei. Dies allerdings sei vorausgeschickt, bevor ich hier Zahlen aufliste: Die Ukraine ist / wird seit 2014 von Russland bedroht. Sie verlor die Krim (nach einem umstrittenen Referendum und der völkerrechtlich indiskutablen Annexion) und sie verlor die Regionen um Luhansk und Donezk an – ja, an wen? An Russland oder an eine von Russland unterstützte russophile Opposition? Tatsache ist, dass durch den Konflikt 1,5 Millionen Menschen zu Flüchtlingen wurden und dass nun diesseits und jenseits der Konfliktlinie 3,4 Millionen (das ist die Berechnung der Uno) auf humanitäre Hilfe angewiesen sind.
Wer immer durch die Ukraine reist, wird sich die Frage stellen: In welchem Zustand befindet sich das Land insgesamt – ist es eigentlich reich oder zumindest wohlhabend – oder bitter arm?
Wenigstens ansatzweise versteht, beispielsweise, ein Besucher der Stadt Odessa am Schwarzen Meer etwas von der Problematik, wenn er, beispielsweise, vom klassischen Hotel Bristol zuerst entlang der Pushkinskaja Strasse zum Opernhaus spaziert und dann ein Taxi zum Hauptbahnhof der Millionenstadt nimmt.
Ein Rundgang
Die erste Etappe: teuer renovierte Gebäude vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert, und vor, sagen wir, jeder dritten Eingangstüre ein Bodyguard in dunklem Anzug.
Das Ende der zweiten Etappe, nach dem Verlassen des Taxis vor dem Bahnhof: auf Schritt und Tritt Männer oder Frauen, die offenkundig obdachlos sind. Und rundherum vielleicht nicht schrille Armut, aber doch, weit herum, erkennbare Bedürftigkeit.
So ist die Ukraine: ein von unglaublichen Gegensätzen geprägtes Land – krasser wohl als irgendein anderes in Europa (mit der Ausnahme vielleicht von Moldavien, das ich nicht kenne). Die Widersprüche beginnen schon beim Themenkreis Militär und Rüstung: Das Land zählt zu den 15 grössten Exporteuren von Kriegsmaterial weltweit, belegt im Ranking des Globalen Militarisierungsindexes des BICC Rang 16 von 151 Staaten und gibt jährlich rund sechs Milliarden US-Dollar für sein Militär aus. Doch Präsident Selenskyi bittet westliche Staaten immer von Neuem um Rüstungsgüter. Die USA liefern in kontrolliertem Masse, ebenso tut das Grossbritannien – Deutschland bleibt zurückhaltend. Was das Militär betrifft, leisten die USA der Ukraine pro Jahr jährliche Hilfe von rund 200 Millionen Dollar, und dazu kommen noch eine «zivile» Entwicklungshilfe und Kredite von weiteren rund 300 Millionen (auf diese Totalsumme bezog sich US-Präsident Biden wohl im Ferngespräch mit Selenskyi vom Donnerstag). Die EU hat der Ukraine seit 2014 etwas mehr als 15 Milliarden Euro an Zuschüssen und Krediten gewährt, und einzelne europäische Staaten leisten darüber hinaus noch «persönliche» Unterstützung – Deutschland, beispielsweise, seit 2014 in der Höhe von fast 380 Millionen Euro. Hinzu kommt Kredithilfe durch den Internationalen Währungsfonds und eher auf das Humanitäre ausgerichtete Hilfe, wiederum beispielsweise, aus der Schweiz im Umfang von rund 25 Millionen Dollar pro Jahr.
Oligarchen
Also müsste die Ukraine eigentlich wirtschaftlich zumindest über die Runden kommen? Offenkundig nicht – und nun machen dafür viele «Ukrainologen» die im Land noch immer mächtigen Oligarchen verantwortlich. Die zehn reichsten Ukrainer besitzen mehr als elf Milliarden Vermögen oder rund 13 Prozent der Wirtschaftsleistung. Petro Poroschenko, ehemaliger Staatspräsident, zählt zu dieser illustren Gruppe, mit einem Vermögen von angeblich rund 950 Millionen. Und einige dieser Oligarchen sind, dank ihrem Geld, fast unheimlich einflussreich in den Medien. Präsident Selenskyi versuchte mehrfach, die Medienmacht der Superreichen zu begrenzen – manchmal mit Erfolg, manchmal ohne. Sein Problem ist, dass er selbst in der Öffentlichkeit als «Produkt» eines Medien-Moguls betrachtet wird und dass ihm, zu recht oder zu unrecht, vorgeworfen wird, er folge den Direktiven des betreffenden Oligarchen auch noch heute.
Übrigens: Wir «Westler» denken beim Begriff Oligarch wohl spontan an Menschen, die ihr Geld auf illegale oder zumindest dubiose Weise gescheffelt haben. So ist das in der Ukraine, auch in Russland, im allgemeinen nicht – in den Umbruchjahren von der alten Sowjetunion zur Unabhängigkeit (um 1991, 1992) gab es, durchaus legal, so viele Lücken zwischen den nicht mehr geltenden und den neuen Gesetzen, dass, wer geschickt war, auf unterschiedlichsten Wegen aus fast Null eine Million machen konnte. Und das, ohne gegen irgend ein Gesetz zu verstossen.
Ratlosigkeit
Was folgt aus all dem? Dass das westliche Ausland sich von der jetzigen Führung der Ukraine distanzieren sollte? Nein, gewiss nicht. Die Ukraine wird von Russland bedroht, sie benötigt Solidarität durch Europa und die USA. Verwirrend anderseits ist, dass der Präsident der Ukraine, Selenskyi, im Ferngespräch mit US-Präsident Biden die gegenwärtige Lage doch als relativ entspannt bezeichnete. Nimmt man das von CNN interpretierte Transkript zum Wortlaut, hätte der ukrainische Staatschef gesagt: Die Bedrohung durch Russland ist zwar gefährlich, aber doch widersprüchlich. Eine Aussage, die von der Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrats der USA prompt substantiell relativiert wurde – anonyme Quellen wollen Fake-News verbreiten, sagte sie.
Was uns alle wohl in Ratlosigkeit zurücklässt. Und in Moskau Wladimir Putin sehr wahrscheinlich freuen wird.