Putin und seine Propagandisten behaupten, dass die Nato mit ihrer Unterstützung der Ukraine Russland militärisch bedrohe. Warum schürt der Kreml, der selber Teile der Ukraine besetzt hält, dieses Zerrbild?
Nach dem Zerfall des Sowjetimperiums Anfang der 1990er Jahre hat die Nato-Allianz eine Reihe von Ostblockstaaten, die einst vom Kreml beherrscht wurden, in ihr Bündnissystem aufgenommen. Seither wird in Moskau mit unterschiedlicher Intensität der Mythos propagiert, die Nato versuche Russland militärisch einzukreisen. Das eigentliche Ziel sei es, Mütterchen Russland unter die westliche Knute und Dominanz zu bringen.
Was bei diesem Narrativ, das auch westliche «Putin-Versteher» gerne nacherzählen, geflissentlich ausgeblendet wird, ist der Umstand, dass es die ehemaligen sowjetischen Satellitenländer wie Polen, Tschechien, Ungarn oder die drei baltischen Staaten waren, die eindringlich an die Türen von Nato und EU geklopft und um Aufnahme nachgesucht haben. Über deren Motive muss nicht lange rätseln, wer die Erfahrungen dieser Länder in den Nachkriegsjahrzehnten nicht vergessen hat.
Wie Napoleon oder Hitler?
Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Nato-Erweiterung und die angeblichen Eroberungsabsichten gegenüber Russland ist öfters das Argument zu hören, schliesslich gründeten die Befürchtungen Moskaus auf bitteren historischen Erfahrungen. Die Überfälle Napoleons und Hitlers hätten im russischen Bewusstsein ein tiefes Trauma hinterlassen. Deshalb sei es nur verständlich, wenn heute das Putin-Regime wieder Alarm schlage über die Annäherung der Ukraine an den Westen und die davon angeblich ausgehende militärische Gefahr für Russland.
Solchen Vergleichen muss man die Frage entgegenhalten: Funktioniert die Nato wie Napoleon und das Hitler-Regime? Ist dieses Bündnis nicht ein Verbund von einigermassen demokratisch regierten Einzelstaaten? Kann man sich realistisch vorstellen, dass etwa der deutsche Bundestag oder das italienische Parlament, von der öffentlichen Meinung in den Nato-Staaten gar nicht zu reden, einen bewaffneten Feldzug gegen das inzwischen wieder hochgerüstete Russland akzeptieren und unterstützen würde? Die Frage stellen, heisst sie beantworten.
«Mourir pour Kiew?»
Die Kriegsunwilligkeit im Westen gegen den russischen Koloss im Osten würde auch dann kaum reduziert, wenn das Putin-Regime sich entschliessen sollte, seine in der Grenzregion zusammengezogenen Truppen tiefer in die Ukraine einmarschieren zu lassen. «Mourir pour Kiew?» Der Berliner Historiker Herfried Münkler hat unlängst diese Frage in der «NZZ am Sonntag» mit einem kurzen Nein beantwortet.
Warum aber reitet Putin und seine von ihm gesteuerten Medien neuerdings wieder so hartnäckig auf dem Popanz einer vom Westen her drohenden Kriegsgefahr und der angeblich vorbereiteten Aufnahme der Ukraine in die Nato herum? Manches spricht dafür, dass der Machiavellist im Kreml selber nicht ernsthaft an solche Angriffsabsichten der Nato glaubt. Seine Motive für diesen inszenierten Alarmismus sind wohl in erster Linie innenpolitischer Natur. Putin sitzt zwar fest im Sattel und er hat durch eine Verfassungsänderung dafür gesorgt, dass er, falls er das will und gesund bleibt, bis 2036 dort regieren kann.
Doch Autokraten brauchen neben dem Herrschaftsinstrument der Repression, das der Kremlchef in jüngster Zeit immer schärfer einsetzt, stets ein gewisses Mass an nationalistisch-patriotischer Mobilisierung, um die Volksmassen enger um die Führergestalt zu scharen. Mit künstlich aufgeblähten Bedrohungsszenarien lassen sich diese Mechanismen leichter in Gang halten. Die Putin-Begeisterung, die der Kremlchef vor bald acht Jahren mit der schnellen Annexion der Krim und der nur dünn kaschierten Kontrolle über den ukrainischen Donbass entfacht hatte, ist inzwischen in weiten Teilen der russischen Bevölkerung einer ernüchterten und lethargischen Stimmung gewichen. Zu der im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt angestrebten Auffrischung von Putins Autorität gehören offenbar auch die Bilder, die den Kremlchef in Videogesprächen auf Augenhöhe mit dem amerikanischen Präsidenten Biden oder dem chinesischen Machthaber Xi Jinping im russischen Staatsfernsehen zeigen.
Der Aggressor fühlt sich bedroht
Jetzt fordert Moskau von der Nato hartnäckig den vertraglichen Verzicht auf eine Aufnahme der Ukraine in die westliche Militärallianz. Zweifellos weiss man auch in den russischen Regierungskreisen, dass eine solche Mitgliedschaft zurzeit überhaupt kein aktuelles Thema innerhalb des Bündnisses ist. Der frühere US-Präsident George W. Bush hatte zwar 2008 einmal vorgeschlagen, sowohl die Ukraine als auch Georgien in die Allianz aufzunehmen. Doch vor allem Deutschland und Frankreich hatten sich – hauptsächlich mit Rücksicht auf russische Empfindlichkeiten – klar dagegen ausgesprochen. Diese Ausgangslage ist weiterhin gültig.
Dennoch kann die Nato aus grundsätzlichen Überlegungen nicht darauf eingehen, sich von Moskau vorschreiben zu lassen, wen man in ihre Allianz aufnehmen darf und wen nicht. Ohnehin ist es ein starkes Stück, wenn der Ukraine unterstellt wird, sie beabsichtige mit einem möglichen Nato-Beitritt, den grossen östlichen Nachbarn zu bedrohen oder gar anzugreifen. Dass ebendieser Nachbar der Ukraine völkerrechtswidrig die Krim entrissen hat und gleichzeitig die ukrainische Donbass-Region mit eigenen Truppen und völlig von Moskau abhängigen Marionetten kontrolliert, spielt im Problemkatalog des Kreml dagegen keine Rolle.
Spielt Putin bei der laufenden russischen Truppenkonzentration im Umkreis der ukrainischen Grenze tatsächlich ernsthaft mit der Option eines breiten Einmarsches im Nachbarland, wie einige Beobachter im Westen und in Kiew befürchten? Man kann sich das nur schwer zusammenreimen. Den erfahrenen Machtmanipulator wird man gewiss nicht darüber aufklären müssen, dass eine solche Entscheidung mit sehr hohen Risiken verbunden wäre – auch wenn die Nato nicht bereit sein dürfte, für Kiew in den Krieg zu ziehen.
Risikofaktor Nord Stream 2
Völlig auszuschliessen aber ist ein neuer militärischer Husarenstreich Putins auch wieder nicht. Schliesslich hatte 2014 auch so gut wie niemand damit gerechnet, dass er auf den Sturz des mit ihm liierten ukrainischen Präsidenten Janukowitsch postwendend mit der Annexion der Krim-Halbinsel und militärischer Protektion für ukrainische Separatisten im Donbass reagieren würde.
Zu den hohen, aber schwer berechenbaren Kosten, die Putin mit einer Invasion bezahlen müsste, würde mit einiger Wahrscheinlichkeit das vorläufige Aus für die Inbetriebnahme der russischen Gaspipeline Nord Stream 2 gehören. Diese mit milliardenschweren Investitionen fertiggestellte, aber noch nicht von den EU-Behörden zertifizierte zweite Gasleitung durch die Nordsee, die unter Umgehung der Ukraine und Polens noch mehr russisches Erdgas nach Westeuropa bringen soll, ist für Moskau und den staatlich kontrollierten Gazprom-Konzern eine bedeutende Einnahmequelle. In Europa müsste man als Konsequenz einer Blockierung zumindest zeitweise mit höheren Gaspreisen und möglicherweise mit kälteren Häusern rechnen. Vielleicht sollte der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder, der sich in diesem Gasgeschäft auskennt, seinem Busenfreund Putin erklären, dass er sich täuschen könnte, wenn er fest damit rechnet, dass die westlichen Wohlstandsgesellschaften nie und nimmer zu einem solchen Energie-Opfer bereit wären.
Nicht über den Kopf Kiews hinweg
Zu kluger und langfristig erfolgreicher Politik zählt in aller Regel eine gehörige Dosis Fingerspitzengefühl. Auch wenn es Putin mit seinem Powerplay gegenüber der Ukraine und seiner Drohkulisse gegen eine gewisse Kooperation mit der Nato an solchem Fingerspitzengefühl entschieden fehlen lässt, sollte man im Westen darauf mit kühlem Kopf und differenzierten Signalen reagieren. Man muss gegenüber Putin einerseits klarstellen, dass nicht Moskau allein und apodiktisch darüber entscheiden kann, welche Bündnisse das Nachbarland Ukraine eingehen darf und welche nicht. Und schon gar nicht ist akzeptabel, dass Moskau über den Kopf Kiews hinweg mit Washington und der Nato über diese Fragen verhandelt, wie man sich das im Kreml vorstellt.
Die westliche Seite könnte andererseits vorschlagen, dass man durchaus bereit ist, gemeinsam mit Kiew und Moskau über vertragliche Sicherheitsgarantien zu verhandeln, die geeignet wären, russische Befürchtungen über angebliche militärische Bedrohungen aus westlicher Richtung zu entschärfen. Solche Garantien aber müssten ebenso von Russland gegenüber der Ukraine abgegeben werden – auch im Zusammenhang mit der russischen Militärpräsenz in den beiden prorussischen Marionetten-Republiken im Donbass. Verhandeln und einen vertieften Dialog über machtpolitische Differenzen pflegen ist grundsätzlich sicher besser als militärisches Säbelrasseln und die einseitige Propagierung sogenannter roter Linien.
Im Westen mag man nach dem Kollaps des Sowjetimperiums gegenüber Russland nicht immer mit optimalem Fingerspitzengefühl agiert haben. Aber die These, dass die Aufnahme ehemaliger Moskauer Satellitenstaaten in die Nato mit dem Ziel erfolgte, Russland einzukreisen und militärisch unter Druck zu setzen, ist und bleibt ein Mythos, an dem man im Kreml nur zu gerne strickt. Die Nato hat mit Rücksicht auf Russland in den vergangenen Jahren bewusst davon abgesehen, die Ukraine oder Georgien als Mitglieder aufzunehmen. Wenn die USA und andere Nato-Länder jetzt in begrenztem Umfang Waffen und Berater in die Ukraine schicken, so hat das nur für Verschwörungstheoretiker mit Angriffsabsichten gegen Russland zu tun. In Wirklichkeit geht es um defensive Vorkehrungen, die angesichts der militärischen Aktivitäten auf der anderen Seite der Grenze durchaus verständlich sind.
Der Langzeitherrscher im Kreml inszeniert und befeuert den Konflikt um die Ukraine offenbar vor allem deshalb, weil er sich davon neue Popularitätsgewinne im Inneren und verstärkte Einschüchterungseffekte auf die fragile ukrainische Nachbarschaft verspricht. Die Frage, ob er mit diesem gefährlichen Spiel den wahren Interessen seines Landes dient, wird auch unter Russen sehr unterschiedlich beantwortet.