Neben den mittelalterlichen Kirchen, Burgen und Klöstern und den unberührten Landschaften gehört auch die Vielfalt der Gegensätze und Widersprüche zum spannenden Reichtum Georgiens. Für Touristen ist diese Feststellung zweifelsfrei. Aber die Einheimischen werden den Kopf schütteln. Ihnen sind die Kontraste Belege für die Härte des Alltags und die Armut, für die ungleiche Verteilung der irdischen Güter. Selber müssen wir uns immer wieder einen Ruck geben, nicht nur für die schönen Fotosujets die Augen zu öffnen, sondern auch für die altägliche Wirklichkeit, um nicht in die Falle der Idylle zu tappen.
Ein Alphabet wie Schmuckstücke
Die georgische Sprache, der Gruppe des Südkaukasischen oder Kartwelischen zugeordnet, ist intensiv zu lernen, um sie zu verstehen. Dem Zuhörenden erschliesst sich ausser dem harten Wohlklang sonst nichts. Auch lesend gibt es keine Deutung, Das Georgische verwendet eine eigene Schrift mit 33 Buchstaben. Zwar von links nach rechts, aber nur mit einer Lernanstrengung entzifferbar.
Buchstaben und Zahlen sind schön, harmonisch in sich gerundet. Ihr Anblick erfreut. Das Schriftbild wirkt wie eine Mustertafel für kleine Schmuckstücke, tragbar als Ringe oder Broschen. Zur Kommunikation verhelfen sie dem Fremden nicht.
Mit Englisch, Russisch und gelegentlich Deutsch gelingt ein mündliches Durchkommen, manchmal erst nach mehreren Anläufen, manchmal mit einem amüsanten Missverständnis. Mimik und Gestik retten aus der Not.
Religiös und ingeniös
Wie eine schweizerische Festungsanlage, aber ein Höhlenkloster bei Vardzia im Süden: Vor tausend Jahren in den Sandsteinfels gehauen für – so heisst es – 800 Mönche und 50’000 Schutzsuchende, mit Zellen, Kirche, Fresken, Apotheke, Ställen, Wasser- und Frischluftversorgung, oberirdischen Zugängen und unterirdischen Geheimgängen, mit Balkonen als Toiletten.
Nach einem Erdbeben ist noch immer ein bestaunenswerter und restaurierter Teil des Wehrklosters über einer Schlucht vorhanden und zu besuchen. Die Wucht der Anlage entfaltet vom Gegenhang aus ihre aussergewöhnliche Wirkung.
Wann beginnt der Wohlstand für alle?
Weil ein Land für uns mehr ist als eine Bühne für Sehenswürdigkeiten, beschäftigte uns die Frage nach dem wirtschaftlichen Morgen und Übermorgen. Die Prognose wird nicht falsch sein, dass Georgien noch lange unterwegs ist zur Zukunft mit einem Wohlstand für alle.
Der Tourist sieht jede Menge historischer Bauten, die saniert werden müssten, überladene Regale in den Stadtgeschäften und knapper gefüllte in den Dorfläden, in den Markthallen ein überquellendes Angebot an Obst, Gemüse und billiger Importware aus der Türkei, neue Autos und zwischen ihnen klapprige Rostvehikel, neben modisch Gekleideten und mit Spielzeugen verwöhnten Kindern die Bettelnden, vor allem Frauen.
Der Tourist sieht fruchtbare Böden und Bauern ohne Maschinen auf den Wiesen und Äckern, aufgelassene Felder für den einst stark nachgefragten Tee, die asphaltierte Autobahn von Westen nach Osten, die beschädigten Hauptstrassen und auf den Nebenstrecken die von Erdrutschen und Steinschlägen in Mitleidenschaft gezogenen Naturstrassen, die im Gebirge zum Bachbett werden.
Blitzblank
Zudem sieht der Tourist komfortable Hotels in den Städten und gerade mit dem Nötigsten ausgestattete Gasthäuser auf dem Land, wo der mal fehlende Strom den Sinn für Kerzenlicht-Romantik entzündet. Ob vier Sterne oder null: die Sauberkeit ist erstklassig.
Wir sassen im verwilderten und von Hühnern und Enten belebten Garten eines dörflichen, dringend renovationsfälligen Restaurants. Jeder Teller und jedes Glas unterschied sich vom andern. Bevor sie auf den gründlich gereinigten Tisch kamen, verlieh ihnen die Gastwirtin mit einem blütenweissen und gebügelten Tuch sorgfältig letzten Glanz.
Hilfe aus der Schweiz zur Selbsthilfe
Fürs ärmste Georgien ist Hilfe ein Segen von elementarer Bedeutung. In der swanetischen Streusiedlung Cholashi zeigen uns der Berner Architekt Markus Röthlisberger und seine Frau Elsbeth zwei von ihrer Stiftung „Pro Mestia Georgien“ mit eidgenössischer und privater Unterstützung gebaute und betriebene Einrichtungen, nämlich ein Ambulatorium für ärztliche und zahnärztliche Grundbehandlungen und eine Werkstatt für die Ausbildung von Schreinern. Zwei beispielhaft realisierte Ideen für die Hilfe zur Selbsthilfe und für praktische Bedürfnisse.
War die Lösung der logistischen Probleme schon schwer genug, ist die bei der Bevölkerung zu leistende Überzeugungsarbeit nicht minder eine Herkulesaufgabe. Der Brückenschlag zwischen den Kulturen und Mentalitäten verlangt Einfühlungsvermögen, Geduld und die Fähigkeit, Enttäuschungen zu verkraften. Den Initianten, die immer mehr Einheimische motivieren können, sind diese Qualitäten samt Optimismus eigen.
Tonnen von Souvenirs aus Fernost
Für Souvernis „Made in China“ ist auch Georgien ein prosperierender Ramschmarkt geworden. Ein Indikator für den wachsenden Tourismus. Es kostet uns einigen zeitlichen Aufwand, im Heuhaufen eine einheimische Nadel zu finden. Für das Bild, das uns gefallen hätte, besteht der Künstler, der zu den namhaften zählen soll, schnell durchschaubar auf einem horrenden „Spezialpreis für Fremde“. Wir erwarben in Usghuli von einer alten Frau, dem Kunsthandwerk zugetan, zwei einfache Holzarbeiten und von einem Künstlerkollektiv in Tbilisi einen keck bemalten Teekrug.
Zögerliche Annäherung
Anmutig ist die georgische Hauptstadt nicht. Sie belastet die Ohren mit dem Verkehrskrach und die Nase mit den Abgasen. Was der zentrale Platz sein könnte, ist eine mehrspurige Rennstrecke und Tabuzone für lebenswillige Fussgänger.
Weil Tbilisi beidseits des Mtkvari ansteigt, ist der Überblick leicht. Er lenkt in die Altstadt mit den Ladengeschäften, Restaurants und Bars, den engen Gassen, den Kirchen, repräsentativen Bauten und Wohnhäusern, zerfallen und nahe dem Zerfall mutigen Investoren rufend, die da und dort bereits Gutes taten. Oder mit futuristischer Architektur, die das Stadtbild ramponiert, auch nicht. Ganze Strassenzüge, teils musikbelärmt, teils ruhig, sind in Boulevardcafés verwandelt und voll besetzt. Quirlig, sympathisch.
Georgien kompakt
Den Georgien prägenden Kontrasten ist in der Hauptstadt kompakt zu begegnen. Unsere Herzen flogen ihr nicht zu. Es sind der wilde Pulsschlag, das hektische Durcheinander und die unbekümmerte Buntheit, die faszinieren – auch die Unmöglichkeit, die Eindrücke auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.
Letzteres gilt, wie wir ihm begegneten und das Land uns, für die Reise insgesamt. Die Erinnerungen werden zum Wunsch, erneut Georgien zu besuchen und von dort aus Armenien.
Kapitel 1: Grandios inszenierte Schlichtheit
Kapitel 2: Rächer, Draufgänger und Schlemmer
Der Autor und seine Frau Regula, von denen auch die Fotos stammen, weilten auf eigene Kosten als Individualtouristen vom 7. bis 22. September in Georgien.