Die brutalen islamistischen Anschläge vom 7., 8. und 9. Januar 2015 auf die Redaktion von «Charlie Hebdo», auf eine Polizistin im Pariser Vorort Montrouge und auf den jüdischen Supermarkt «Hyper Casher» im Vorort Vincennes haben Frankreich aufgewühlt und zutiefst erschüttert. Das gesellschaftliche Klima hat sich nach diesen Januartagen 2015 grundlegend geändert. Der Kampf der Republik gegen den Islamismus in Frankreich ist bei weitem nicht beendet.
Man selbst weiss heute, 10 Jahre danach, noch ganz genau, wie man an diesem Mittwochmittag im Restaurant die Vorspeise hat stehen lassen, an den Arbeitsplatz zurückgeeilt ist und in der Diele des Büros der Radiolautsprecher trocken, gnadenlos, brutal bereits einen Namen nach dem anderen ausspuckte, die Namen derer, die in den Redaktionsräumen von «Charlie Hebdo» ermordet worden sind.
Eine ganze Generation von freien Geistern, Aufmüpfigen, grenzenlos unkonventionellen und humorvollen Redaktionsmitgliedern von Lebenslustigen mit spitzer Feder oder scharfem Zeichenstift und Pinsel war von zwei islamistischen Fanatikern während der ersten wöchentlichen Redaktionskonferenz im neuen Jahr 2015 eine halbe Stunde vor Mittag niedergemäht, einfach weggeblasen worden – Charb, Tignous, Wolinski, Honoré, Oncle Bernard und der legendäre Cabuder, der zur Feier des Tages einen selbstgebackenen Kuchen mitgebracht hatte.
Kurz bevor die islamistischen Fanatiker ihr Blutbad anrichteten, um wie sie sich ausdrückten «den Propheten zu rächen», hatten sie noch alle gelacht, auch gestritten, und dies nicht zu wenig, über die neue Nummer ihrer Zeitung, die an diesem Tag erschienen war mit einer ganzseitigen, reichlich bösartigen Karrikatur von Michel Houellebecq auf der Titelseite. Dessen Roman «Unterwerfung», worin Frankreich von einem islamischen Präsidenten und seiner Muslimbruderschaft regiert wird, war gerade in die Buchläden gekommen.
Dieses gezielte Massaker war für das Land ein extrem tiefer Schock, der bis heute anhält, ein Einschnitt in die jüngere Geschichte, eine Tat nach der in Frankreich nicht mehr so sein sollte, wie zuvor.
Reaktion
Die Reaktion der Französinnen und Franzosen auf diesen brutalen Angriff gegen ihre Freiheit entsprach der Grösse des Schocks.
Zwischen 1,5 und 2 Millionen Menschen – niemand konnte sie zählen – sollten vier Tage später dicht gedrängt in den Strassen von Paris stehen – zum Marschieren war schlicht kein Platz. Landesweit demonstrierten insgesamt 4 Millionen. Es waren die grössten Demonstrationen seit der Befreiung der französischen Hauptstadt von den Nationalsozialisten im August 1944, ein wahres Sich-Aufbäumen der Bevölkerung für ihre Republik, für die Meinungsfreiheit, ein Zusammenstehen von ungeahntem Ausmass gegen einen bornierten menschenverachtenden und gewalttätigen Islamismus. Es waren Demonstrationen, die unter dem einfachen und schlichten Motto standen: «Je suis Charlie». Fast 50 Staats- und Regierungschefs waren angereist. Sogar Benjamin Netanjahu und Mahmoud Abbas standen – fast – Seite an Seite. Paris war einen Samstag lang das Zentrum der Welt und alle waren Charlie.
Bei genauerem Hinsehen war das jedoch schon damals nicht der Fall – die Bevölkerung aus den Pariser Vorstädten mit Wurzeln in Nord- und Schwarzafrika und muslimischen Glaubens oder zumindest mit einem entsprechenden kulturellen Hintergrund waren überwiegend zu Hause geblieben. Eine Tatsache, die im öffentlichen Diskurs damals allerdings weitgehend unterschlagen wurde.
Zehn Jahre später
Was bleibt zehn Jahre nachdem die islamistischen Terroristen mit ihrem Blutbad einen ganzen Reigen von terroristischen Anschlägen in Frankreich eingeläutet hatten, 19 Jahre nachdem «Charlie Hebdo» erstmals die Mohammed-Karrikaturen veröffentlicht hatte? Karrikaturen, die erst vor zwei und vier Jahren indirekt einem Französisch- und einem Geschichtslehrer das Leben gekostet haben, nur weil sie diese in Unterrichtseinheiten zum Thema «Grundrecht auf freie Meinungsäusserung» eingesetzt hatten. Zwei via Internet radikalisierte junge Männer von gerade mal 18 und 19 Jahren waren die mit Fleischermessern ausgestatteten Täter.
Bei «Charlie Hebdo» halten derweil die Überlebenden und die von schweren Verletzungen Genesenen – immer noch rund um die Uhr von Polizeikräften beschützt – nach 10 Jahren den Karren weiter am Laufen, gemeinsam mit mutigen neu hinzugekommenen Kolumnisten und Karrikaturisten – in einem strikt geheim gehaltenen, hoch gesicherten Gebäude, das die Mitarbeiter resigniert «den Bunker» nennen.
«Charlie Hebdo», dessen Ausgabe am Tag des Attentats sich 800’000 Mal verkauft hatte, zählt heute 30’000 Abonnenten und setzt wöchentlich rund 18’000 Exemplare in den Zeitungsgeschäften ab, was ausreicht, um finanziell über die Runden zu kommen. Am heutigen Dienstag veröffentlicht die Satirezeitung eine Sondernummer unter dem Titel: «Increvable – nicht kaputtzukriegen» mit der Karikatur eines strahlenden Männchens, das auf einem Maschinengewehr sitzt und mit Freude die Sondernummer liest.
Eine der Überlebenden des Anschlags vor zehn Jahren, Corine Rey, bekannt als «Coco», so die Signatur unter ihren Karikaturen, die von den Terroristen gezwungen worden war, draussen den Nummerncode zu tippen, um die Eingangstür zu öffnen, und am Leben gelassen wurde, sie sagt heute in einem Le-Monde-Interview:
«Inzwischen fühle ich mich etwas weniger schuldig, doch der 7. Januar verfolgt mich weiterhin Tag für Tag. Was ausserdem schwierig ist zu akzeptieren, auch zehn Jahre danach, ist dieses Gefühl der Machtlosigkeit. Man hat diese Typen losgelassen, damit sie Leute angreifen, die einen Zeichenstift in der Hand halten oder eine Frau wie mich 1,61 gross und 50 Kilo schwer. Alles war völlig unproportioniert. Ihr Hass, unser Pazifismus. Ihre Waffen, ihre monsterhaften Gestalten und wir, die da waren mit unseren Federn, Pinseln und Stiften, um ein paar Ideen zu verteidigen und um zu lachen. Indem sie «Charlie» töten wollten, versuchten diese Fanatiker, uns ihre Gesetze aufzudrücken, während wir uns für die Freiheit zu denken und zu zeichnen einsetzten. Ein echter Schock der Kulturen.»
Ja, aber …
Jedoch von dem sich Aufbäumen und Zusammenstehen der Franzosen quer durch alle politischen Strömungen gegen die Intoleranz der Islamisten, gegen ihre teils unterschwellige, teils aggressive Propaganda und gegen ihre Gewaltbereitschaft ist zehn Jahre später nicht mehr allzu viel zu spüren. Auch wenn laut einer gestern veröffentlichen Umfrage 76% der Bevölkerung der Meinung sind, dass das Recht auf freie Meinungsäusserung ein unverzichtbares Grundrecht ist und das Recht auf Karikaturen dazu gehört.
Doch der einst so hochgepriesene Geist von «Charlie», die kompromisslose Verteidigung der republikanischen Werte der Pressefreiheit, des Prinzips des Laizismus und auch des Rechts auf Gotteslästerung ist heute deutlich weniger präsent als in den Wochen und Monaten nach dem Attentat.
Denn es wird mittlerweile unterschwellig oder auch ganz offen immer häufiger eine Melodie gespielt, die zum Ausdruck bringt: «Ja, gewiss Freiheit der Karikatur, aber …» Es wird , so der sozialistische Abgeordnete, Jérôme Guedj dieser Tage, «inzwischen ein gewisser Druck ausgeübt, doch besser zu verzichten, es doch besser bleiben zu lassen, weil diese oder jene Äusserung, Rede oder Karikatur ja manche Leute schockieren könnte».
Ja, mehr noch: Bei einer Reihe von Meinungsmachern, Experten, einem Teil der französischen Intelligentsia und vor allem bei Politikern aus dem radikal linken Lager hat sich eine Haltung breit gemacht, die die Gefahr des politischen Islamismus mit seinen faschistischen Zügen schlicht und ergreifend kleinredet.
Islamistenversteher?
Die Linkspartei «La France Insoumise» und ihre Galionsfigur Jean-Luc Mélenchon sind schon wenige Jahre nach den Anschlägen auf «Charlie Hebdo» und auf den jüdischen Supermarkt «Hyper Casher» dazu übergegangen, sich bei der Kritik des Islamismus mehr und mehr zurückzuhalten, ja immer öfter jede Kritik an diesem Islamismus als «Islamophobie» zu verunglimpfen und mit dafür zu sorgen, dass konsequente Islamkritiker in der öffentlichen Debatte einfach ins rechtsextreme Lager abgeschoben werden.
2019 nahm Mélenchon sogar an einer Demonstration gegen Islamophobie teil, die von einem Kollektiv organisiert wurde, welches enge Kontakte zu den radikalen Muslimbrüdern unterhält – Männer und Frauen demonstrierten getrennt.
Kritiker werfen Mélenchon und seiner Partei, die inzwischen mit «Charlie Hebdo» auf Kriegsfuss steht, vor, sich bei Frankreichs Muslimen anzubiedern und dabei die republikanischen Prinzipien über Bord zu werfen, ja sie mit Füssen zu treten.
In der Tat steckt hinter der Attitude der Linkspartei ein reichlich zynisches, ja unappetitliches politisches Kalkül.
Mélenchon und Co. umgarnen ganz offen die überwiegend muslimische Bevölkerung in Frankreichs Vorstadtghettos mit Blick auf kommende Wahlen und sie werden es weiter tun, zumal sie mit dieser Strategie bisher schon Erfolg hatten. In manchen Wahlbüros der Pariser Vororte holten die Kandidaten der Linkspartei fast 80% der Stimmen, unter anderem weil die Partei gezielt die arabisch-muslimischen Franzosen darin bestärkt, dass sie Opfer der Gesellschaft sind. Angesichts dessen versteht es sich fast von selbst, dass sich Mélenchons Partei mit Kritik an Islamisten eher zurückhält, Israels Vorgehen im Gazastreifen als Völkermord bezeichnet und die Hamas als Widerstandsorganisation sieht.
Dass angesichts dieses nationalen und internationalen Kontextes der Antisemitismus in Frankreich – ganz überwiegend seitens des muslimischen Teils der Bevölkerung – in den letzten Jahren beständig zugenommen hat, wird dabei kaum jemanden verwundern.
Die Philosophin Elisabeth Badinter zieht jedenfalls eine düstere Bilanz dieser zehn Jahre seit dem Anschlag auf «Charlie Hebdo». In einem Interview der Wochenzeitung «Express» meint sie: «In diesen zehn Jahren hat die Angst gesiegt. Wir haben zugelassen, dass sich der Islamismus ausbreitet. Wir haben zugelassen, dass er an den Schulen Entrismus betreibt, in manchen Stadtvierteln seine Normen diktiert. Die radikalen Islamisten waren schlauer als wir. Und heute haben wir Angst.»
Am 26. Januar 2015 erschien eine Hommage unseres Frankreich-Korrespondenten auf Cabu, den «Charlie Hebdo»-Karikaturisten, der am 7. Januar erschossen wurde.