Georgiens Autofahrer teilen sich die Strassen mit Kühen, Pferden, Schafen, Ziegen, Schweinen und Hühnern. Das ist Alltag. Keine Aufregung. Weder bei den Bauern, die ihr Vieh an den Wagenkolonnen vorbei treiben, noch bei den Wartenden hinter dem Steuer. Obwohl die Lenker sonst tollkühn aufs Gaspedal drücken und Sicherheitslinien, Überholverbote und Tempolimiten missachten, vorzugsweise vor bedrohlichen Kurven. Die Strassenszenen charakterisieren ein Stück weit das Land des Aufeinanderprallens von Moderne und archaischer Vergangenheit, des Eigensinns und offenbar des Glaubens, ohne Risiko gebe es keine Hoffnung.
Mosaiksteine, kein Mosaik
Für Joseph Roth ist es „eine grosse Vermessenheit, Städte beschreiben zu wollen. Städte haben viele Gesichter, viele Launen, tausend Richtungen, bunte Ziele, düstere Geheimnisse, heitere Geheimnisse“. Das gilt wohl erst recht für die Beschreibung von Ländern. Wir wollen uns deshalb mit Impressionen begnügen, die wir während zweier Wochen im für uns bis dahin unbekannten Georgien – Sakartwelo in seiner eigenen Sprache – sammelten. Bloss Mosaiksteine also, kein Mosaik.
Auf sicheren Pfaden
Die Lufthansa flog uns von München nach Tbilisi. Wir hielten uns während einiger Tage in der Hauptstadt auf und reisten weiter nach Osten in die Steppe und ins Weingebiet von Kachetien, dann über den Gombori-Pass nach Westen und Norden zur Grossen Heerstrasse, von dort in die Gebirgstäler Swanetiens, in den Süden zur Höhlenstadt von Vardzia und zurück nach Tbilisi.
Das ergab unter greller Sonne 2’500 Kilometer und Tausende von begeisternden und verwirrenden Ausblicken.
Bei den separatistischen Regionen Abchasien und Südossetien hielten wir uns an den Rat des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten, von einer Reise abzusehen. Die Küste am Schwarzen Meer besuchten wir aus Zeitgründen nicht.
Auf eigene Faust oder in guten Händen
Wem die Überwindung sprachlicher Mauern und im eigenen Wagen stundenlange Fahrten auf steilen, engen Schotterwegen über tiefen Schluchten ein vergnügliches Abenteuer sind, kann Georgien auf eigene Faust entdecken. Ansonsten empfehlen sich – und empfahlen sich für uns – die Dienste eines landeskundigen Reisebüros und eines einheimischen Spezialisten, der seinen robusten Allradwagen auch beherrscht, wenn die Kühlerhaube himmelwärts steigt oder auf einen Fluss zustürzt.
Luftsprünge und Demut
Die romanischen Kirchen und Kirchlein, einsam auf Hügeln und Felsrücken erbaut, werben attraktiv für Georgien. Lange vor der Abreise haben sich uns die Fotografien eingeprägt und wegen ihrer Einzigartigkeit das Verlangen geweckt, sie unbedingt in Augenschein nehmen zu wollen. Die Dreifaltigkeitskirche, die Zmina Sameba, bei Kasbegi ragt heraus.
Sie thront seit dem 14. Jahrhundert auf 2’170 Metern über dem nördlichen Ende der Grossen Heerstrasse nach Russland. Hinter der Kirche erhebt sich der 5’033 Meter hohe und vergletscherte Kasbek, über ihm wölbt sich der Himmel. Das fügt sich aus der Distanz zu einer Dreifaltigkeit aus Grandiosität, Demut und Glückseligkeit.
Es gibt viele Momente, gleichzeitig vor Freude in die Luft zu springen und erdrückt zu werden von der unmittelbaren Erfahrung, ein kleines Menschlein zu sein. Zu den unvergesslichsten dieser Momente zählt die schlichte, herrlich inszenierte Zmina Sameba.
Zeitlose Antwort auf eine aktuelle Frage
Von ebenfalls berührender Einfachheit sind die schwach besiedelten Wehrdörfer Shatili und Metso auf Felsvorsprüngen im zentralen Kaukasus, lediglich im Sommer und lediglich mühsam durch die Schluchten des Arghuni erreichbar, knappe drei Kilometer vor dem Grenzmassiv zwischen Georgien und dem russischen Tuschetien.
Die mehrstöckigen, aus schweren Schieferplatten geschichteten Wohnhäuser mit ihren Flachdächern bilden dicht an dicht die Trutzigkeit einer Burg. Die strategisch bedeutenden Orte vereidigten das Königreich Georgien gegen Feinde aus dem Norden.
Der steingewordene Wille zur Wehrhaftigkeit fährt ein. Die Abgeschiedenheit des Talkessels in seiner Kargheit überwältigt. Die ästhetisch bestechenden Siedlungen, deren älteste Spuren ins 6. Jahrhundert zurückreichen, lesen sich wie eine zeitlose Antwort auf die Frage, wie verdichtetes Bauen gelingt.
Atemberaubend
Vor Shatili ist auf 2’676 Metern der Bärenkreuzpass, Datvisjvari, zu überqueren. Auf ihm öffnet sich der Ausblick zu einer westlichen und östlichen Kaukasus-Arena von je atemberaubender Majestät. Bis auf fast 4’000 Meter hinauf erstreckt sich über die Berge, eine Kette hinter der anderen, ein sanftgrüner und baumloser Grasteppich. Friedlicher und beschützend umarmender kann ein Gebirge nicht sein.
Kapitel 2 dieser dreiteiligen Reiseimpressionen folgt am Mittwoch, Kapitel 3 am Freitag.
Der Autor und seine Frau Regula, von denen auch die Fotos stammen, weilten auf eigene Kosten als Individualtouristen vom 7. bis 22. September in Georgien. Kaukasus-Reisen, von einem in Tbilisi lebenden Deutschen geführt, besorgte die Planung, die Unterkünfte und den Geländewagen mit Fahrer.