Zur Rechtfertigung des russischen Überfalls auf die Ukraine behaupten die Putin-Propagandisten, die USA würden das Bündnis eines Nachbarlandes mit einer fremden Supermacht auch nicht dulden. Als Beweis für diese Behauptung wird gerne auf die Kuba-Krise von 1962 verwiesen, bei der die Kennedy-Regierung die Beseitigung von russischen Atomraketen auf Kuba erzwang. Stimmt dieser Vergleich?
Zutreffend an diesem Vergleich ist die Tatsache, dass die USA nach Fidel Castros revolutionärer Machtergreifung in Kuba mit allen möglichen Mitteln versuchten, dessen sozialistisches Regime, das sich immer enger mit dem Supermachtrivalen Sowjetunion verbündete, zu bekämpfen und zu beseitigen. Schon im Frühjahr 1961 hatte die Regierung Kennedy ein Invasionsunternehmen von kubanischen Emigranten und Söldnern organisiert und protegiert, das jedoch schon beim Landeversuch in der Schweinebucht kläglich scheiterte.
Entschärfung nach 13 Tagen, keine Toten
Im Herbst 1962 wurde die Kennedy-Regierung mit Luftaufnahmen und Berichten konfrontiert, die belegten, dass auf der benachbarten Karibikinsel bereits sowjetische Raketen mit nuklearen Sprengköpfen stationiert waren. Weitere derartige Waffen waren auf Schiffen unterwegs nach Kuba. Nach hektischen Diskussionen beschloss Kennedys Krisenstab die Verhängung einer Seeblockade für diese Schiffe. Gleichzeitig kam es zwischen Moskau und Washington zu Verhandlungen auf verschiedenen Kanälen. Kennedy und der damalige Kremlchef Chruschtschow einigten sich darauf, dass die USA als Gegenleistung für den Abzug der sowjetischen Raketen auf jegliche Invasion in Kuba verzichten würden. Ausserdem versprachen die USA, mit einer gewissen Verzögerung auch ihre «Jupiter»-Mittelstreckenraketen aus der Türkei zu beseitigen.
Die Kuba-Krise, die die beiden damaligen Supermächte gefährlich nahe an den Rand eines Atomkrieges brachte, dauerte bis zu ihrer glimpflichen Entschärfung nur 13 Tage. Es gab auf keiner Seite Tote oder Verletzte. Demgegenüber führt Russlands jetziger Machthaber Putin seit bald drei Jahren einen mörderischen Eroberungs- und Vernichtungskrieg gegen das Nachbarland Ukraine. Die Folgen sind Hunderttausende von Toten und Millionen von Flüchtlingen. Er lancierte seinen Angriffskrieg im Februar 2022 unter Bruch sämtlicher völkerrechtlicher Normen sowie aller zuvor unterschriebenen territorialen Garantien gegenüber der Ukraine. Diese hatte nach ihrer Unabhängigkeit alle Atomwaffen an Russland übergeben.
Putins ultimative Territorialforderungen
Putins Hauptargument für diesen Überfall ist die angeblich bevorstehende Mitgliedschaft des Nachbarlandes im westlichen Nato-Verteidigungsbündnis. Dabei ist dieser Eintritt erst als mögliches Projekt ins Auge gefasst und noch keineswegs vollzogen. Ausserdem verbreitet der Kremlchef die infame Lüge, bei der demokratisch gewählten Regierung Selenskyj handle es sich um eine «faschistische Junta». Schon zuvor hatte er die völkerrechtlich und historisch unhaltbare Behauptung publiziert, die Ukraine habe keine eigenes Existenzrecht und gehöre untrennbar zu Russland. Derart eklatante propagandistische Verdrehungen waren bei der Kuba-Krise 1962 nicht im Spiel.
Richtig aber ist, dass Putin im Dezember 2021, also kurz vor seinem Angriffskrieg den USA und der Nato je einen Vertragsentwurf zuschickte. Mit diesen forderte er in ultimativer Form einen definitiven Verzicht auf jede Möglichkeit eines ukrainischen Anschlusses an die Nato. Verlangt wurde ausserdem die Anerkennung der annektierten Krim-Halbinsel als russisches Staatsgebiet sowie die Unabhängigkeit der völkerrechtlich zur Ukraine gehörenden Gebiete Donezk und Luhansk. Die Präsenz von Nato-Militärkräften sollte auf den Stand vor der ersten Osterweiterung im Jahre 1997 zurückgebaut werden.
Welche Gegenleistungen Moskaus?
Von konkreten Gegenleistungen der russischen Seite gegenüber der Ukraine war in diesen Moskauer Vertragsentwürfen nicht die Rede. Aber selbst ein Versprechen zur Respektierung der geforderten ukrainischen Neutralität hätte ohne westliche Sicherheitsgarantien keine Glaubwürdigkeit verdient, nachdem Putin zuvor das Existenzrecht des Nachbarlandes grundsätzlich verneint hatte.
Die Nato ist auf diese ultimativ formulierten Vertragsentwürfe vom Dezember 2021 nicht näher eingegangen. Der damalige Nato-Generalsekretär Stoltenberg betonte im Namen aller Mitglieder lediglich, jedes Land habe das Recht, sich für ein bestimmtes Bündnis zu entscheiden. Vielleicht hätte man in Moskau genauer sondieren sollen, ob die russische Seite überhaupt zu detaillierten Verhandlungen über Putins Vertragsforderungen bereit gewesen wäre. Bei den Gesprächen, die Putin an seinem überlangen Kremltisch mit westlichen Repräsentanten wie Macron und Scholz führte, standen solche Verhandlungen und ein möglicher Zeitrahmen dazu nicht im Vordergrund. Dafür log Putin diesen Besuchern schamlos vor, ein Angriff auf die Ukraine sei trotz des massiven russischen Truppenaufmarsches an der Grenze in keiner Weise geplant.
Hingegen kam es einige Wochen nach dem russischen Überfall im März und Anfang April 2022 zu direkten Waffenstillstandsverhandlungen zwischen russischen und ukrainischen Vertretern. Eine Einigung ist nicht zustande gekommen, weil nach Darstellung Kiews die russische Seite an ihren territorialen Forderungen und am endgültigen Verzicht auf eine mögliche Nato-Mitgliedschaft unverrückbar festgehalten hatte. Moskau und die Putin-Propagandisten im Westen wiederum behaupten ohne glaubwürdige und konsistente Fakten, Nato-Politiker wie Boris Johnson hätten Kiew vorgeschrieben, die angeblich bereits erreichte Einigung zu torpedieren. Putin verkündet zwar gelegentlich, Moskau sei jederzeit zu Verhandlungen bereit. Er fügt aber immer hinzu: nur zu unseren Bedingungen. Unter solchen einseitigen Vorgaben haben Kennedy und Chruschtschow 1962 nicht verhandelt.
Die russische Verschwörungserzählung
Fazit: Die Kuba-Krise von 1962 bietet bei Lichte besehen keine Rechtfertigung für Putins anhaltenden Vernichtungskrieg gegen die Ukraine. Gewiss, auch die USA haben damals harte Machtpolitik betrieben, um den Abzug bereits stationierter Atomraketen aus Kuba durchzusetzen. Diese Nuklearwaffen musste man in Washington aus naheliegenden Gründen als akute militärische Bedrohung empfinden. In der unabhängigen Ukraine aber gab es zum Zeitpunkt des russischen Überfalls keine solchen Waffen, die Moskau bedroht hätten. Zudem war bei Kriegsbeginn die Mitgliedschaft der Ukraine im Nato-Bündnis noch keineswegs eine definitiv beschlossene Tatsache. Hingegen haben die USA bei aller hartnäckigen Ablehnung und wirtschaftlichen Diskriminierung des Castro-Regimes die spätere De-facto-Zugehörigkeit der Karibikinsel zum Sowjetimperium immerhin zähneknirschend akzeptiert.
Ohnehin ist die Moskauer Verschwörungserzählung von den angeblichen Angriffs- und Einkreisungs-Absichten der Nato gegen den russischen Territorialriesen mit Hilfe der Ukraine nichts als ein hohler Popanz. Als ob die demokratisch organisierten Nato-Länder und deren Öffentlichkeit einem solchen Wahnsinns-Abenteuer gegen die russische Atommacht zustimmen würden! Es sind im Gegenteil die historisch und aktuell sehr realen Moskauer Expansionsbestrebungen, die die Ukraine und andere ehemalige Länder des früheren Sowjetimperiums dazu motivieren, sich dem Nato-Bündnis anzuschliessen.
Der tiefere Grund von Putins blutigem Krieg ist nicht bei einer angeblichen militärischen Bedrohung durch einen möglichen Nato-Anschluss der Ukraine zu suchen. Dieser Krieg hat viel mehr mit Putins Furcht zu tun, das sich demokratisch entwickelnde Nachbarland könnte zu einer Attraktion und Inspiration für seine russischen Untertanen werden. Von solchen Ansteckungsängsten war Präsident Kennedy während der Kuba-Krise gewiss nicht geplagt.