Die Versuchung ist gross, von einer Top-Sehenswürdigkeit zur andern zu eilen. Aber es wäre schade, deswegen den Alltag zu verpassen und die Wonne, in seliger Ruhe zu essen und sich von der schlaraffischen Küche überraschen zu lassen.
Ökologie und soziale Kontrolle
Sippen wohnten einst mit ihren Kühen und Schafen in einem einzigen Raum. Vor dem offenen Feuer Bänke und Truhen aus Holz, dazwischen der mit Schnitzereien verzierte Holzthron des Oberhauptes, dahinter der Kuhstall, davor der Schafstall, beide mit ornamental verzierten und mit Luken versehenen Holzwänden vom zentralen Wohn-, Koch- und Essbereich abgetrennt. Darüber die Schlafstellen. Sippenangehörige und Tiere fanden ihre Plätze durch je eigene Türen.
Ein Zeuge dieser Lebensform ist in Mestia im Oberen Swanetien als Museum erhalten. Kühe und Schafe waren nah für die Besorgung und nachts als Wärmespender unter Schutz. Das ökologisch Sinnvolle garantierte die soziale Kontrolle und diese im besten Falle die gemeinschaftliche Harmonie.
Auge um Auge, Zahn um Zahn
Sie war zwischen den Sippen gefährdet. Davon reden die Dutzenden von im Oberen Swanetien noch vorhandenen und die Landschaft bis hinauf nach Usghuli bizzar prägenden Wehrtürme. In diese flüchtete die Bevölkerung vor äusseren, aber auch vor inneren Feinden. Es galt die Blutrache. Wessen Sippe sie bedrohte, verschanzte sich im eigenen Wehrturm und zog vor dem Eingang im ersten Stock die Holztreppe hoch.
Die Furcht ist vorbei. Fast. Der 4’737 Meter aufsteigende Ushba über dem Tal jagt als schroffes, teils glattes, teils zerklüftetes felsiges Monster eher Schrecken ein denn Bewunderung.
Nostalgie in Dunkelrot
Die Diskussionen im Auto mit unserem Guide und Fahrer gerieten oft hitzig. Er ist stolz auf sein Land und wütend auf alles, was aus dem Ruder läuft. Es ist seinem Urteil nach viel und der Befreiung Georgiens von der Sowjetherrschaft geschuldet. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert rase das einst blühende Georgien auf die Katastrophe zu, der Staatsmänner beraubt, einer Bande ausgeliefert. Er hämmerte und sichelte auf uns ein.
Unsere Einwände und Gegenargumente lachte der ehemalige Alpinsportler als dunkelroter Nostalgiker mit der Bemerkung weg, wir seien Opfer der antisowjetischen Propaganda. Er respektiere jedoch die Meinungsfreiheit nach der georgischen Redensart, der eine schätze den Pfarrer, der andere die Frau des Pfarrers.
Als wir an Stalins Geburtsstadt Gori vorbeifuhren, erwarteten wir eine glühende Hymne. Schweigen am Steuerrad. Sicher nicht aus Einsicht, sondern aus Vernunft zur Wahrung des Reisefriedens. Er war auch uns wichtig, zumal sich unser Cicerone mit seinen Geschichts- und Ortskenntnissen, seiner Fahrkunst, seinem Englisch und seiner Aufmerksamkeit, uns Tag für Tag frisches Obst an Bord zu bringen, alle Achtung erwarb.
Zerfall und skurrile Neubauten
Als die erste aufs Ärgste verwohnte Plattensiedlung auftauchte, schluckten wir konsterniert zweimal leer. Allmählich gewöhnten wir uns an den Bauschrott aus sowjetischer Hinterlassenschaft. Noch und noch wechselten bis auf die Grundmauern verfallene Kolchosen mit abgetakelten Kurhotels und stillgelegten Fabriken, Wohnhäuser ohne Fensterscheiben mit solchen ohne Dach. In den Ruinen wuchert das Unkraut. Die Natur kündigt die Rückeroberung an.
Hässlich auch gar manche Neubauten, vorwiegend Hotels und Restaurants, planlos hingeknallt, mit schrillen Fassaden, mit rustikalem Kitsch und als in den Proportionen verrutschte Kopien französischer Landschlösser und italienischer Klöster. Die Polizei machte es vor und klotzte in die Städte und Dörfer ihre Einsatzzentralen aus Beton und Glas, die geometrischen Körper skurril weiterentwickelnd mit Kegelquadern und Kreispyramiden.
Heiliger Genuss
Die weiss getünchten Wände, das Neonlicht und die mit Plastikfolien bespannten Tische versprachen im kalten Speisesaal ein frugales Mahl. Sollten wir zweckoptimistisch der gastfreundlichen Wirtin vertrauen oder uns in der spartanisch eingerichteten Pension auf Schmalkost gefasst machen?
Touristenproblemchen! Auch im weltverlorenen swanetischen Becho verwöhnte die georgische Küche Auge und Gaumen. Sie gehört mit den regionalen Variationen zum kulturellen Schatz des Landes. Die Spitzenweine, weiss, rosé, rot, gestatten den internationalen Vergleich.
In schneller Folge werden beispielsweise eine Rote-Bohnen-Suppe aufgetragen, Auberginen mit Baumnusspaste, gebackenes Käsebrot, Hähncheneintopf mit Tomaten-Zwiebelsauce, Teigtaschen mit Hackfleischfüllung und gegrillte Würstchen. Alles mit Zwiebeln, Knoblauch und Kräutern kräftig gewürzt, dazu Tomaten- und Mirabellensauce. Jede Platte bleibt auf dem Tisch. Es wird vorwärts, rückwärts und durcheinander gegessen. Sind die sehr herzhaft zugreifenden Georgier satt, reichen die Reste für wenigstens eine weitere Mahlzeit.
Von der Bestellung bis zum Auftischen braucht es Geduld, denn jede Speise wird frisch zubereitet. Das Schlaraffenland hat zu allem Überfluss auch Zeit. Dem Fremden fällt auf, dass niemand auf der Strasse isst und trinkt. Georgisch speisen ist heiliger Genuss.
Solidarische Draufgänger
Georgiens motorisierte Verkehrsteilnehmer gelten als waghalsig. Das ist zutreffend, aber nur die Hälfte der Wahrheit. Sie üben sich auch in Rücksichtnahme. Die Draufgänger sind mit den Draufgängern solidarisch. Sie weichen einander aus, bremsen ab, konzentrieren sich als ihre eigenen Schutzengel auf die Unfallvermeidung und verzichten in den Schicksalssekunden lebensrettend auf pädagogische Einlagen mit Hupen, Blenden oder Vogelgruss.
Es funktioniert. Jedenfalls kamen wir heil davon.
Das letzte Kapitel des dreiteiligen Reiseberichts folgt am Freitag.
Kapitel 1: Grandios inszenierte Schlichtheit
Der Autor und seine Frau Regula, von denen auch die Fotos stammen, weilten auf eigene Kosten als Individualtouristen vom 7. bis 22. September in Georgien. Kaukasus-Reisen, von einem in Tbilisi lebenden Deutschen geführt, besorgte die Planung, die Unterkünfte und den Geländewagen mit Fahrer.