Die Schweiz macht zu wenig gegen den Klimawandel, so das Klimaurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Frühling 2024. Jetzt streiten unsere Politikerinnen und Politiker darüber, ob das Urteil zu beachten sei.
Ist das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass die Schweiz zu wenig gegen den Klimawandel macht, bahnbrechend oder ein Verstoss gegen die Gewaltentrennung? Kürzlich haben im Tages-Anzeiger eine Rechtsprofessorin und ein Rechtsprofessor der Universität Zürich darüber gestritten, ob die Schweiz – welche die Menschenrechtskonvention ratifiziert hat – das Urteil umzusetzen habe. Wieder einmal fühlt sich unser Land da und dort zu Unrecht angeprangert.
Wer hat Recht?
Frau Helen Keller ist Völkerrechtlerin und Spezialistin für Menschen- und Klimarecht. Anlässlich eines Streitgesprächs im Tages-Anzeiger begrüsst sie den Entscheid, denn es sei das erste Mal, dass in einem internationalen Urteil eine Verbindung zwischen Klima und Menschenrechten gemacht wurde. Daniel Jositsch, Ständerat und Rechtswissenschaftler, bezeichnet das Urteil als falsch; weder sei es Aufgabe dieses Gerichtes, noch sei diese Möglichkeit in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vorgesehen.
National- und Ständerat haben das Urteil von Anfang an offiziell kritisiert. Der Gerichtshof habe die Grenzen der zulässigen Rechtsfortentwicklung überschritten und die demokratischen Entscheidungsprozesse der Schweiz missachtet.
Es fällt auf, dass sich bei der Kritik alles um die Nichtzuständigkeit des Gerichtes respektive dessen Kompetenz zur Behandlung dieses Problems dreht. Ob unser Land wirklich genug gegen den Klimawandel unternehme – diese Frage interessierte nicht.
Tatsachen gegen Fakes
Angesichts der Brisanz der Thematik Klimaerwärmung erlaube ich mir – ungeachtet jener Stimmen, die sich beim Strassburger-Urteil zu Unrecht angeprangert sehen – die dezidierte Meinung, dass die Schweiz tatsächlich zu wenig gegen den Klimawandel unternimmt. Ob das in anderen Ländern auch so ist, danach ist an dieser Stelle nicht gefragt.
Wer will, kann zur Kenntnis nehmen, dass der CO2-Ausstoss in unserem Land erneut angestiegen ist. Haupttreiber sind Flugverkehr und private Fahrzeugflotten. Zurich Airport vermeldet neue Rekordfrequenzen – man fliegt wieder in die Ferien! Die Importstatistik der neu zugelassenen Autos zeigt es schwarz auf weiss: Mehr als die Hälfte davon sind SUVs, diese belasten die Luftqualität wesentlich stärker als die übrigen PWs.
2018 hat das Stimmvolk mit 66 Prozent Nein die Selbstbestimmungsinitiative der SVP abgelehnt. Damit sagten wir Ja zur Europäischen Menschenrechtskonvention und gleichzeitig Nein zu anderen, menschenrechtswidrigen SVP-Volksinitiativen. Wenn heute ein Teil des National- und Ständerats meint, das Klimaurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sei zu ignorieren, liegt er falsch.
Altes gegen neues Denken
Während sich die Welt in raschem Wandel befindet – bestreitet das jemand? –, hinkt die Rechtsprechung respektive die Zuständigkeit der Gerichte in einzelnen Streitfragen logischerweise hinterher. Es dauert jeweils Jahre, bis solche Definitionen der Zeit angepasst werden. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Parlamente.
In obigem Fall meint Helen Keller, dass es nicht sein könne, dass sich der Zugang zum Gericht immer stärker reduziere, je grösser und globaler das Problem sei; somit müsse der Zugang geöffnet werden, damit sich die Gerichte diesen wichtigen Fragen annehmen können. Daniel Jositsch – dem dies übrigens einleuchten würde, wenn die Möglichkeit in der Europäischen Menschenrechtskonvention ausdrücklich vorgesehen wäre – meint, wenn sich die EMRK entgegen den vorgesehenen Regeln «weiterentwickle», gäbe es keinen Konsens mehr.
Das Urteil ist tatsächlich bahnbrechend und bereitet Verdauungsschwierigkeiten, was Zeit braucht. Sich weiterentwickeln braucht tatsächlich Zeit. Da mehr, dort weniger …
Altes Denken basiert auf Vergangenheit, auf inzwischen obsolet gewordenen Gewohnheiten. Neues Denken fokussiert auf die Zukunft, um rechtzeitig bereit für den Wandel zu sein.
Es geht um unsere Gesundheit
Thomas Stocker, der Schweizer Klimaforscher, ist erfreut über das Urteil aus Strassburg und meint, wir sollten das als Ansporn nehmen, um mehr zu machen als bisher. Stocker war bekanntlich Co-Leiter der Arbeitsgruppe des Weltklimarates. Mittels seiner Forschung auf dem Gebiet der Eisbohrkerne und deren Analyse konnten Klima und Treibhausgaskonzentration über die letzten Hunderttausende von Jahren rekonstruiert werden.
Er warnt immer wieder vor den Kräften, die mit viel Geld die Bewahrung des Status quo beim Konsum fossiler Energieträger finanzieren. Er bezeichnet die Angstkampagnen der Lobby, die damals (2021) vor der CO2-Gesetz-Abstimmung z. B. davor warnte, bei Annahme würde das Benzin teurer werden, «eine unsägliche Propaganda mit Lügen und Unwahrheiten» (Tages-Anzeiger).
Die Abstimmung ging bachab. Er und führende Ökonomen sind dennoch der Meinung, dass mit einer CO2-Abgabe die grösste Lenkungswirkung erzielt werden könnte. Wer z. B. seine alte Ölheizung durch eine Wärmepumpe ersetzt, kriegt vom Staat Geld. Mit dem Einbau einer Erdsonde konnte Stocker – dies als Beispiel – seinen ökologischen Fussabdruck um 80 Prozent reduzieren. Die Signalwirkung solcher politischen Subventionen ist eminent – worauf warten wir denn eigentlich?
Der frisch gewählte Generalsekretär des Europarates
Der frühere Bundesrat Alain Berset ist nun als neuer Generalsekretär des Europarates Chef von 1800 Mitarbeitenden und sagt: «Ich werde das Klimaurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht kritisieren» (Tages-Anzeiger). Recht hat er. Alain Berset tut gut daran, für unser Land die Kontakte auf höchster Ebene zu pflegen.
Das Trotzdem-Prinzip
Wenn wir wollen, können wir auf www.julian-horx.com lesen, dass die globalen Wachstumsraten von Solar-, Wind- und Wasserenergie viel steiler nach oben zeigen als vermutet, befürchtet oder in Abrede gestellt. Horx führt eine ganze Reihe von eindrücklichen Beispielen auf. Und er sagt: «Eine der am meisten verbreiteten «bad future rumors», also Negativgerüchte über die Zukunft, ist die Annahme, der Kampf gegen die Klimakatastrophe sei verloren.»
Erstaunliches sei in den letzten Wochen Tatsache geworden. «TROTZ aller rechten Anti-Ökologie-Kulturkämpfe, TROTZ der perfiden Offensive des fossilen Sektors, der mit allen Mitteln versucht, das Geschäft mit Öl, Gas und Kohle auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verlängern, geht es mit der ökologischen Wende ziemlich gut voran.»
Das TROTZDEM-Prinzip könnte auch auf andere Gegebenheiten und Krisen der Gegenwart angewendet werden – hilfreich wäre es dabei, den Unterschied zwischen der realen und der medialen Welt zu beachten. Anders gesagt: Sich selbst eine Meinung zu bilden, statt anderen zu glauben (glauben nach Duden: zu wissen meinen). Eben – neu statt alt zu denken.