Obwalden und Nidwalden sind zwei ungleiche Nachbarn, sogar eine Art «verfreundeter» Zwillinge. Doch es gibt noch die Engelberger. Das Hochtal gehört zum Kanton Obwalden, geografisch aber zu Nidwalden. Ein helvetisches Kuriosum.
Die Schweiz – ein Maximum an Komplexität auf einem Minimum an Raum. Das zeigt sich auch im Mikrokosmos des ehemaligen Kantons Unterwalden mit den beiden Halbkantonen Obwalden und Nidwalden. In der Bundesverfassung von 1999 gibt es sie nicht mehr, diese Halbkantone, und auch der Verwaltungsbegriff Unterwalden ist verschwunden. Doch das Widersprüchliche zwischen beiden Gebilden ist geblieben.
Die ungleichen Hälften
Der dunkle Kernwald trennt die beiden Kantone ob dem Wald und nid dem Wald. Zueinander gehört haben sie nie richtig. Beide sind zwar die Hälften eines Ganzen, doch von diesem Ganzen weiss man nicht genau, ob es dieses Ganze tatsächlich einmal gegeben hat. Der Nidwaldner Arzt und Erzähler Prof. Jakob Wyrsch (1892–1980) analysierte das so: Da liege der logische Unsinn dieses Doppelwesens vor, dass die beiden Teile früher dagewesen seien als das Ganze.
Aber auch diese zwei Hälften sind sie eigentlich erst seit der napoleonischen Mediation von 1803 und dann seit dem Bundesvertrag von 1815. Das sei der zweite Widersinn, sagte Wyrsch. Vorher hat Obwalden, der Landstrich zwischen Alpnach und Brünigpass mit Sarnen als Hauptort, staatsrechtlich als zwei Drittel gegolten und Nidwalden mit dem Zentrum Stans nur als ein Drittel. Über das Warum gibt keine historische Quelle präzis Auskunft. Im eidgenössischen Bündnissystem zählt Unterwalden, der nachgeordnete Juniorpartner von Uri und Schwyz im Dreiländerbund von 1291, lange Zeit als eine Einheit, als ein Ort.
Es gab nie eine Trennung
Doch diese Einheit ist fiktiv. Im Innern ist man nie einig und eins gewesen. Ganz im Gegenteil. Es sind zwei Gemeinwesen. Allerdings ist eine Trennung, eine Spaltung nicht belegt. Warum es von «Appenzell» und von «Basel» je zwei Hälften gibt, ist rasch erzählt. Einerseits durch die Reformation und die «Landteilung» von 1597 in ein katholisches Innerrhoden und ein reformiertes Ausserrhoden. Es ist eine konfessionelle Scheidung.
Der Stand Basel anderseits wird 1833 getrennt. Die liberalen Basel-Landschäftler als ehemalige Untertanen reklamieren die gleichen Rechte wie die konservativen Basel-Städter. Einigen können sich die beiden Parteien nicht. Ein Tagsatzungsbeschluss teilt sie einfach: die politische Scheidung.
Die Dauerrivalitäten auf engstem Raum
Im Falle der beiden unterwaldnerischen Hälften hingegen ist die Sachlage verzwickter. Beide haben sich ja nie einfach als ein «halber» Stand verstanden. Obwalden war stets mehr. Das führte zu Rivalitäten und Animositäten. Dieses Ungleichgewicht hatte Folgen: Nur jedes dritte Mal konnte Nidwalden beispielsweise den Landvogt in die Gemeinen Herrschaften entsenden. Bei Feldzügen stellte Obwalden zwei Drittel der Soldaten und heimste zwei Drittel der Beute ein. Die Nidwaldner fühlten sich von den Obwaldnern während langer Zeit majorisiert. Als gefühltes halbes Ganzes waren sie nur einen Drittel wert. Eine jahrhundertlange Schmach!
Das dritte Unterwaldner Element: Engelberg
In Wirklichkeit sind die Verhältnisse im ehemaligen Unterwalden noch komplizierter. Es gibt in diesem Mikrokosmos der beiden Talschaften der Engelberger Aa und der Sarneraa nicht nur Nidwaldner und Obwaldner, es gibt etwas Drittes: die Engelberger. Das Hochtal mit dem 900-jährigen Benediktinerstift Engelberg ist geographisch mit Nidwalden verbunden, politisch aber gehört es seit 1815 zu Obwalden.
Bis zum Einmarsch französischer Revolutionstruppen 1798 mit dem institutionellen Zusammenbruch der alten Eidgenossenschaft bildet Engelberg ein eigenes kleines Staatswesen. Es steht unter der Herrschaft des Klosters und unter eidgenössischem Schutz. Auf Druck der Talschaft verzichtet das Kloster 1798 auf seine Herrschaftsrechte.[1] Napoleon schlägt das Gebiet in der Mediationsverfassung 1803 zu Nidwalden. Doch 1815 schliesst sich das Kloster zusammen mit dem Tal Engelberg als territoriale Exklave dem Kanton Obwalden an.
Engelberg – die Obwaldner Exklave
Warum dieser Wechsel? Ein Blick auf die unterschiedlichen Mentalitäten hilft verstehen. Das nidwaldnerische Naturell war wilder, ungestümer und auch theatralischer als der eher nüchterne, überlegtere und diplomatischere Obwaldner Charakter. Falls einmal ein Unterwaldner Bundesrat würde, sei es sicher ein Obwaldner, prognostizierte der Nidwaldner Schriftsteller Jakob Wyrsch. Und wirklich: 1959 wurde der Obwaldner Ludwig von Moos als erster Unterwaldner zum Mitglied des Bundesrates gewählt. Die Nidwaldner warten noch heute.
Diesen Unterschied hat auch der Göttinger Professor Christoph Meiners (1747–1810) in seinen «Briefe(n) über die Schweiz» beschrieben. Er reiste zwischen 1782 und 1788 mehrmals durch die Eidgenossenschaft. Die Nidwaldner Verfassung zeige Anzeichen einer zügellosen Pöbelherrschaft, einer «Ochlokratie». Nicht umsonst verliefe manches tumultuös, gezeichnet und geprägt von grollendem Aufbegehren und berserkerhaft Fanatischem. Eben: das heftige und leidenschaftliche Nidwaldner Temperament!
Austritt aus der Eidgenossenschaft
Genau so verhielten sich die Nidwaldner zu Beginn der Restaurationszeit 1815. Sie wehrten sich «bockbeinig und stierengrindig» gegen den neuen Bundesvertrag, schreibt der Basler Historiker-Journalist Fritz René Allemann in seinem noch heute lesenswerten Buch «25-mal die Schweiz».[2] Im Zuge ihrer restaurativen Politik wollte Nidwalden die alten Bünde wiederaufleben lassen. Das aber wurde nicht akzeptiert. Worauf das Land kurzerhand aus der Eidgenossenschaft austrat und die völlige Unabhängigkeit verkündete. Bundestruppen holten das widerborstige Nidwalden unblutig in den Schoss von Mutter Helvetia zurück.
Gleichzeitig verweigerten die Nidwaldner in ihrem Sturm und Drang nach Unabhängigkeit, in ihrem ochlokratischen Verhalten den Engelberger Landsleuten die vollen politischen Rechte. Engelberg zögerte nicht und schloss sich 1815 Obwalden an.
Der «Unterwaldner» bleibt eine Abstraktion
Die beiden katholischen Teilkantone von ob und nid dem Kernwald sind nie zusammengekommen. Zu unterschiedlich und zu widersprüchlich ausgeformt waren die Charaktere. Das gilt auch für Engelberg. Selbst wenn das Hochtal zu Obwalden gewechselt hat, blieb seine Identität mentalitätsgeschichtlich die gleiche. Darum gibt es im Mikrokosmos des ehemaligen Kantons Unterwalden bis heute keine «Unterwaldnerinnen und Unterwaldner». Es gibt weiterhin Nidwaldner, Obwaldnerinnen und Engelberger.
[1] Urban Hodel, Rolf De Kegel: Engelberg (Kloster). In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS). https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008557/2011-03-31, konsultiert am 03.02.2023.
[2] Fritz René Allemann (1965): Unterwalden. Ein Stand, zwei Gemeinwesen. In: 25-mal die Schweiz. München: R. Piper & Co. Verlag, S. 54.