Sie trügen Züge des Ochlokratischen, des Pöbelhaften. So beurteilte ein Reiseschriftsteller die Nidwalder im 18. Jahrhundert. Doch ohne dieses Älplerisch-Rebellische wäre Nidwalden wirtschaftlich wohl nicht dort, wo es heute steht. Der Kampf um das Stauwerk Bannalp.
Nur die Kirche dürfe läuten, nicht das Vieh. So gebot Rom. Doch die Älpler und Sennen beharrten auf ihren Riten. «Und zum Erstaunen der Welt war ihr Widerstand gegen die sonst überall siegreiche Religion erfolgreich. […] Und die Herden läuten bis zum heutigen Tag.» [1] So erzählt der Schriftsteller Thomas Hürlimann. Und er fügt bei: Auch der Alpsegen konnte sich halten, obwohl die katholische Kirche Krieg führte, um diesen Brauch auszurotten. Einzig und allein dem Priester sollten Segensworte vorbehalten sein. [2] Doch bis heute gibt es den Betruf, diese leiernd gesungene Litanei. Die Älpler vereinten eben zwei verschiedene Gestalten in sich, beobachtet Hürlimann: eine reaktionäre und eine rebellische. Ein Januskopf sässe ihnen auf dem Rumpf. Ja, so wären sie: Reaktionäre Rebellen. Rebellische Reaktionäre.
Der Kampf von unten gegen die modernen «Herren»
Und wieder waren es reaktionäre Rebellen, die Anfang der 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts gegen die erbitterte Opposition der Nidwaldner Regierung und des kantonalen Parlaments einen Stausee durchsetzten. In einer unerbittlich geführten Politfehde erzwangen sie an der Landsgemeinde 1934 das Kraftwerk auf der Bannalp ob Wolfenschiessen. Sie zeigten den modernen «Herren», wie konservatives Denken ökonomisch progressiv sein kann. Es war ein langwieriger Kampf gegen Kantonsregierung und Bundesrat, gegen Elektrizitätsmagnaten und spitzfindige Juristen. Das Projekt wurde zu einem Wendepunkt in der sozialen Struktur Nidwaldens.
Alle lehnten das wagemutige Unternehmen als nicht finanzierbar ab, die Exekutive, die externen Fachexperten und die zuständigen Bundesstellen. Sie prophezeiten den finanziellen Ruin. Wie sollte ein mausarmer Kanton mit Staatsausgaben von lediglich rund 1,5 Millionen Franken jährlich die horrenden Baukosten von 5,7 Millionen verkraften? Man hielt das Werk für ein Abenteuer und eine Eulenspiegelei, schiere Geldverschwendung und Ausgeburt wilder Phantastik. Nur die Rebellen waren vom Erfolg überzeugt.
Die Gretchenfrage: Wie hältst du’s mit dem Strom von auswärts?
Der kleine Kanton Nidwalden bezog einen grossen Teil des Strombedarfs vom Elektrizitätswerk Luzern-Engelberg (EWLE) – über Verträge aus der Zeit zwischen 1904 und 1914. Zusätzlich wollten zwei ausserkantonale EWs die Nidwaldner Wasserkraft nutzen. Eine Motion im Landrat hatte darum vom Regierungsrat bereits 1919 die Analyse eines kantonseigenen Elektrizitätswerks eingefordert. Doch der Bericht erschien nie. Ein politischer Affront gegenüber den Befürwortern des Vorhabens!
Fremdbestimmt bleiben und weiterhin teuren Strom vom EWLE beziehen oder ihn selber produzieren und damit unabhängig werden? Diese Frage spaltete den Kanton in zwei unversöhnliche Lager. Die Gräben zogen sich mitten durch die beiden Parteien, die katholisch-konservative und die liberale. Treibende Kraft für den Bau eines Stausees auf der Bannalp war ein Initiativkomitee. Gesinnungsmässig stand es den Konservativen nahe, hatte aber auch bei den Liberalen seine Anhänger. Sie alle sahen sich als Kämpfer für die «Rechte der Heimat» und als Promotoren eines wirtschaftlichen Fortschritts. [3]
Ein Kampf mit harten Bandagen
Verhindern, verzögern und die Vorstösse an die Landsgemeinde juristisch für ungültig erklären, das war die Taktik der Projektgegner. Die Anhänger des Kraftwerks kämpften nicht weniger verbissen. Keine Spur von argumentativ feiner Klinge. Gutachten und Gegengutachten, Flugschriften und Kontra-Manifeste lösten sich ab. Inserate und Pamphlete auf beiden Seiten – ein ganzes Arsenal an politischer Propaganda.
Während das ablehnende Lager auf die astronomischen Kosten verwies, beriefen sich die Fürsprecher auf die Motive der eidgenössischen Befreiungsmythen. [4] Es war die Analogie der freien Urschweizer, die dem Druck der «Dividendentruste» widerstehen und sich vom Joch der Energiefürsten befreien sollten. Ganz nach dem Motto: den modernen Landvogt vertreiben und «Die Wasserkraft dem Volk!».
Eine fast komplett neue Regierung
Ende April 1934 kam das Projekt an die Landsgemeinde. Über 3’000 Männer drängten in Wil bei Oberdorf in den engen Ring – 75 Prozent der Wahlberechtigten kamen. Eine Rekordzahl!
Mit Zweidrittelmehrheit stimmten die Nidwaldner für den Bau des Bannalpwerks. Ein gewaltiger Erfolg für das Initiativkomitee! Anders als gewohnt folgten die Gesamterneuerungswahlen in den elfköpfigen Regierungsrat erst nach der Sachabstimmung. Vier Mitglieder hatten bereits vor der Landsgemeinde den Rücktritt kundgetan. Einer war im Amt verstorben. Vier erklärten direkt nach dem Projekt-Ja ihre Demission und stiegen vom sogenannten «Härdplättli». Sie vermieden so ihre sichere Abwahl. Nur zwei der elf Regierungsräte verblieben im Amt. Gewählt wurden unisono «Bannalper». [5]
Doch noch immer kehrte keine Ruhe ein. Noch immer gab es Kräfte, die das Staudamm-Vorhaben torpedieren wollten. Erst im August 1935 begann der Bau. Zwei Jahre später nahm das Kraftwerk seinen Betrieb auf. Es kam auf lediglich 3,65 Millionen zu stehen und damit zwei Millionen günstiger als von den Fachexperten prognostiziert.
Und entgegen allen Unkenrufen warf das Elektrizitätswerk Nidwalden (EWN) von Anfang an Gewinn ab: Möglich wurde so der langsame Ausstieg Nidwaldens aus der Reihe der finanzschwachen Kantone.
Der Drachentöter als Dank an die beiden Bannalp-Exponenten
Zu den weitsichtigen und unnachgiebigen Bannalpvorkämpfern zählten Werner Christen und Remigius Joller. Beide wurden 1934 in den Regierungsrat delegiert und später als Landammann gewählt. Und beide vertraten später den Kanton im Ständerat. Den zwei treibenden Kräften hat das Land Nidwalden auf echt nidwaldnerische Art gedankt: mit der silbernen Statue eines Drachentöters. Es ist der bäuerliche Held Struthan Winkelried aus Nidwaldens Sagenschatz; ihm wird die gleiche Tat wie dem heiligen Georg zugeschrieben. [6] Den Sockel dieser allegorischen Skulptur schmücken zwei Medaillons: die Köpfe der beiden wirtschaftlich progressiven Konservativen – samt der Inschrift: «Den Erbauern des Bannalpwerks – das Volk von Nidwalden». [7]
Von Rebellen ist nichts geschrieben; doch am Anfang einer hart erkämpfen ökonomischen Prosperität stand die Rebellion der Basis gegen die «Herren».
[1] «Reaktionäre Rebellen». In: Thomas Hürlimann (2008): Der Sprung in den Papierkorb. Geschichten, Gedanken und Notizen am Rand. Zürich: Amann Verlag, S. 90, 96.
[2] Hürlimann bezieht sich dabei auf das Buch «Goldener Ring über Uri» des Urner Landarztes und Sagenforschers Eduard Renner. Der Zuger Schriftsteller erklärt den «Gestaltenwandel»: Der Melker wird zum Gottesmann, wenn er den Alpsegen über das dämmernde Tal ruft. Er wird unmotiviert ein anderer.
[3] Vgl. Karin Schleifer-Stöckli (2014): Politische Entwicklung: Vom Bannalpstreit zum Wellenberg. In: Geschichte des Kantons Nidwalden. Bd. 2. Von 1850 bis in die Gegenwart. Stans: Historischer Verein Nidwalden, S. 106ff.
[4] Karin Schleifer (2013): «Die Wasserkraft dem Volk!»: Der Kampf um den Bau des Elektrizitätswerks in Nidwalden in den 1930er-Jahren. In: Traverse: Zeitschrift für Geschichte 20/2013, S. 91ff.
[5] Erich Aschwanden: «Die Wasserkraft dem Volk», in: NZZ, 28.04.2014, S. 7.
[6] Fritz René Allemann (1965): 25 mal die Schweiz. München: R. Piper & Co. Verlag, S. 63.
[7] Ein zeittypisch verfasster Text steht auf der Rückseite der kleinen Statue: «In nomine Domini. In Dankbarkeit gewidmet den Hochgeachteten Landammännern Werner Christen und Remigius Joller, die – wie weiland Struthan den Drachen bezwang – in jahrelanger selbstloser Arbeit alle unendlichen Schwierigkeiten beim Bau des kantonalen Elektrizitätswerkes überwanden und damit das bisher grösste wirtschaftliche und gemeinnützige Unternehmen in Nidwalden schufen, zu Nutz und Frommen von Land und Volk – Weihnachten 1941».