Seit 15 Monaten führen die russischen Streitkräfte einen mörderischen Krieg gegen das ukrainische Nachbarland. Gelegentlich wird auch über Drohnenangriffe und Attentate in Russland berichtet, deren Herkunft undurchsichtig bleiben. Doch die Kreml-Medien sprechen dann regelmässig von ukrainischen «Terroranschlägen». Ein exemplarischer Fall von Opfer-Täter-Umkehr.
Am 3. Mai explodierten zwei mysteriöse Drohnen über dem Gebäudekomplex des Kremls, dem historischen Machtzentrum des russischen Reiches. Die Medien in aller Welt berichteten in Wort und Bild über dieses verblüffende Ereignis. In einer Presseerklärung des Kremls wurde die Drohnenexplosion als geplanter und gezielter «Terroranschlag auf das Leben des Präsidenten» dargestellt, doch wurde beruhigend hinzugefügt, Präsident Putin habe sich zu jener Zeit nicht im Kreml aufgehalten. Die russische Seite behalte sich das Recht vor, «Vergeltung zu üben, wo und wann sie es für richtig hält», hiess es weiter in der Moskauer Stellungnahme.
Rufe nach vollem Krieg gegen die «Terroristen» in Kiew
Dass dieser Terroranschlag von ukrainischer Seite lanciert worden sein könnte, wird in der Kreml-Erklärung zwar nicht ausdrücklich erwähnt. Doch die Kommentare in russischen sozialen Medien oder im Fernsehen liessen daran keine Zweifel offen. Dieser Angriff werde die russische Führung hoffentlich dazu bewegen, endlich einen vollen und uneingeschränkten Krieg gegen die «Faschisten» oder «Terroristen» in der Ukraine auszulösen, polterten Stimmen im Fernsehen und unter den sogenannten Militärbloggern. Bisher handelt es sich bei dem Überfall auf die Ukraine nach Moskauer Sprachregelung nur um eine «militärische Spezialoperation» und nicht um einen vollen Krieg.
Ähnliche Reaktionsmuster wie bei der Drohnen-Explosion auf den Kreml-Dächern spielen sich auch bei den zahlreicher gewordenen übrigen Anschlägen auf russischem Territorium gegen militärische oder andere staatliche Einrichtungen oder gegen einzelne Personen ab. Über solche Vorfälle wird in der Regel von offizieller Seite nur kurz berichtet, doch das Echo in den nichtoffiziellen, aber mit dem Kreml verbundenen Medien stellt diese Ereignisse stets als ukrainische Terroranschläge dar.
Eine Ausnahme von diesem Muster bildet der Untergang der «Moskwa», des russischen Flagschiffes im Schwarzen Meer im April 2022. Dieser Verlust wurde damals als Folge einer zufälligen Explosion an Bord des Schiffes erklärt. Doch die meisten Experten und Beobachter sind sich einig, dass das Schiff durch ukrainische Raketenangriffe gesunken ist. Die ukrainische Regierung wiederum wiederholt im Zusammenhang mit solchen Vorfällen immer, dass man keinerlei militärische Angriffe gegen russisches Territorium unternehme. Die eigenen militärischen Anstrengungen richteten sich allein auf die Bekämpfung der in die Ukraine eigefallenen Streitkräfte.
Wie immer im sprichwörtlichen Nebel des Krieges bleiben die Hintergründe und Zusammenhänge bei solchen Anschlägen, die sich nicht direkt an der Front zwischen den Kriegsparteien abspielen, meist undurchsichtig und geben zu widersprüchlichen Spekulationen Anlass.
Sabotageakte von Putin-Gegnern?
Das gilt zum Beispiel bei den tödlichen Attentaten im vergangenen August gegen die Tochter des grossrussischen Ultranationalisten Alexander Dugin oder vor kurzem gegen einen propagandistischen Mitläufer des Wagner-Söldnerführers Prigoschin in St. Petersburg. Hinter solchen Anschlägen könnten ebenso ukrainische Drahtzieher oder russische Putin-Gegner stecken, die als Partisanen im Untergrund Sabotageakte organisieren.
Andere Vermutungen wiederum sprechen bei den geheimnisvollen Drohnenexplosionen über dem Kreml von einem vom Kreml selbst inszenierten Angriff «unter falscher Flagge», um so die Bevölkerung besser von der angeblichen Gefährlichkeit des Kiewer «Faschistenregimes» zu überzeugen. Überzeugend ist diese Theorie allerdings nicht, denn in erster Linie stellt das Eindringen dieser fremden Flugkörper in den Gebäudekomplex des innersten russischen Machtzentrums eine offene Blamage für die vermeintlich so hochentwickelten Moskauer Sicherheitsvorkehrungen dar.
Der Nexus von Angriffskrieg und «Terrorakt»
Aber was immer die wahren Fakten hinter den ungeklärten Anschlägen, Abstürzen und Explosionen auf russischem Territorium in den letzten 15 Monaten sein mögen – interessant ist hier die explizite oder implizite Zuschreibung dieser Vorfälle in der russischen Sprachregelung als «ukrainische Terrorakte». Macht der Begriff «Terrorakt» einen legitimen Sinn, wenn man annimmt, dass solche Aktionen von einem Gegner ausgehen, der selbst seit über einem Jahr blutig attackiert und zerstört wird und deshalb versucht, sich mit allen Mitteln gegen diesen Aggressor zur Wehr zu setzen?
Und wenn gelegentliche ukrainische Gegenschläge im russischen Hinterland als «Terrorakte» definiert werden, ist dann der Putinsche Angriffskrieg gegen das Nachbarland nicht logischerweise auch ein grenzenloser «Terrorakt»? Interessant wäre zu erfahren, mit welchen rhetorischen Hakenschlägen die Putin-Claqueure hierzulande versuchen würden, diesen Terror-Nexus aufzulösen.