Am 11. Juni 1892 unternimmt der Oberengadiner Bergführer Christian Klucker eine Erkundung an der Nordkante des Piz Badile im Bergell: „Bereits um 5.00 Uhr morgens war ich am Grat und liess Rock und Schuhe zurück. Hurtig ging es empor…“
Er gelangt gegen acht Uhr morgens an „eine kleine vorspringende Nase am Grat“. Dort kehrt er um, denn ein Weitersteigen schätzt er als „äusserst schwierig und sehr gewagt“ ein.
Er hatte – allein und in den Socken - etwa zwei Drittel der Tour geschafft. Ohne Seil, ohne Haken, ohne jegliche technischen Hilfsmittel: „Der Abstieg ohne Sicherungsseil und mit zerfetzten Strümpfen an den Füssen war kein Spass, aber in jenen Jahren packten wir die Felsen sehr leicht.“
Christian Klucker (1853 – 1928) war einer der bekanntesten Schweizer Bergführer um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Er führte rund 3000 Klettertouren ohne Unfall, und seine einzige Ausrüstung waren das Seil und der Pickel. Die Fotos jener Epoche zeigen die Bergführer in stets der gleichen würdevollen Haltung: das Bergseil sauber über die Schulter gelegt, eine Hand auf den Pickel gestützt.
„Walfische und Mehlsäcke“
Ein neuer Beruf war entstanden, sein Erkennungszeichen war das Seil. Mit dem Seil beginnt die Geschichte des modernen Alpinismus. Der Guide führte den Gast am kurzen Seil, sei es im Firnschnee oder im Fels. An schwierigen Stellen stieg er wohl am längeren Seil voraus und sicherte den Nachsteiger oder die Nachsteigerin, indem er das Seil um Felsen oder durch Risse laufen liess. Die Seilreibung am Stein ergab die jeweils nötige Bremswirkung, mit der er einen Sturz auffangen konnte.
Wahrscheinlich benutzten die Führer damals als Steighilfe oder Sicherung schon Strickleitern oder Bandschlingen, die sie um Felszacken legten, oder auch Seilknoten, die sie in Rissen verkeilten. Möglicherweise sogar Holzstücke, die sie, wo es keine geeigneten Felsen gab, im Schnee eingruben, um daran abzuseilen. Man darf davon ausgehen, dass Leute wie Christian Klucker eine Menge Knoten und Seil-Tricks kannten. Die meisten Guides waren vertraut im Umgang mit Seilen, weil sie von ihrer Herkunft Bauern oder Handwerker waren.
Die Gäste dagegen waren in der Regel reiche Akademiker oder gar adliger oder geldadliger Herkunft und nicht immer leicht zu bedienen. Bergführer Klucker sprach von „walfischartigen Touristen“. Dem russische Baron Anton von Rydzewski verweigerte er die Tour auf den Badile und schrieb dazu später in seinen Memoiren: „An der Badile-Nordkante wird unter meiner Führung nicht gepröbelt, denn dort oben ist nicht die Stelle, um mit ihm Mehlsacktechnik zu treiben.“ Da braucht es wenig Phantasie, um sich vorzustellen, wie die Führer damals bisweilen ihre Walfische oder Mehlsäcke am Seil hinaufziehen mussten.
Seil-Legenden
Die Seile waren dick und spröde, sie bestanden aus gedrehten Hanf-Fasern. Ihre Elastizität war gering. Seilrisse waren nicht selten. Der Hanf nahm Wasser auf und konnte bei Temperaturstürzen gefrieren und brüchig werden.
Um Bergseile ranken sich Mythen und Legenden. Fundstücke finden sich in Museen, es sind Reliquien alpinistischer Heldenverehrung. Zerrissene Seile zeugten von tödlichen Unfällen. Zu den dramatischsten zählt die Eiger-Nordwand-Tragödie im Juli 1936. Anderl Hinterstoisser hatte mit einem Seilzug-Quergang, der später nach ihm benannt wurde, eine etwa 30 Meter breite glatte Platte traversiert, Toni Kurz und die zwei Österreicher folgten nach, der letzte nahm das Seil aus dem Quergang mit. Damit hatten sie sich selbst den Rückweg abgeschnitten. Denn als sie am vierten Tag in der Wand durch einen Wettersturz zum Rückzug gezwungen werden, gelingt die Querung der vereisten Platte nicht mehr, und sie können das rettende Stollenloch der Jungfraubahn nicht mehr erreichen. Drei kommen durch Steinschlag ums Leben, Toni Kurz überlebt noch eine Nacht und stirbt dann vor Kälte und Erschöpfung, bevor die Rettungsequipe zu ihm gelangt. Das Foto des toten Berchtesgadener Bergführers, der als unkenntlicher Eisklumpen am Seil in der Wand hängt, ist wohl eines der erschütterndsten Dokumente des modernen Alpinismus.
Als um 1920 die Verwendung von Felshaken aufkommt, erlebt das alpine Klettern einen Quantensprung. Es dauert nicht mehr lange, bis sich Kletterer an Steilwand-Touren im VI. Grad wagen. Später werden Überhänge und ganze Dächer durchstiegen, das Unmögliche ist möglich geworden.
Für Bergführer alten Schlages wie Christian Klucker war das zuviel der technischen Hilfen. In seinen „Erinnerungen eines Bergführers“ (Zürich 1928) beklagt er die Verwendung von Eisenstiften und Mauerhaken, „wo die menschliche Kraft und Fertigkeit nicht ausreicht (…) Ich täte es ungemein bedauern, wenn das ideale Bergsteigen durch den reinen Sport verdrängt würde.“
Rückkehr zur Einfachheit
Ich frage mich, was ein Mann wie Christian Klucker gesagt hätte, hätte er die Zeit der Big-Wall-Besteigungen der sechziger und siebziger Jahre noch erleben dürfen. Da wurde zentnerweise Material hinaufgezogen, und es war -und ist bis heute- den Top-Profis vorbehalten, in dem Durcheinander von Seilen und Sicherungsmaterial den Überblick zu behalten.
Was aber Christian Kluckers Beharren auf „menschlicher Kraft und Fertigkeit angeht“, so müsste er nicht enttäuscht sein. Mit der Rückkehr zum Free Climbing in den achtziger Jahren hat ein Umdenken stattgefunden, eine Art Retour à la nature im Felsklettern. Kompressor, Haken und Trittleitern, - das ganze Gebohre und technische Geklingel in den Wänden ist heute beim Sportklettern verschwunden. Nur Hände und Füsse dürfen zum Aufstieg benutzt werden (natürlich auch die Zähne, um Material zu halten, oder der Rücken, um im Kamin gegenzustemmen etc.)
Von einer Materialschlacht wurde das Klettern wieder zu einer Übung, in der nur Kraft, Gewandtheit und Ausdauer zählen. Dabei ist das Seil nicht mehr Hifsmittel zum Aufstieg, sondern dient nur noch der Sicherheit im Fall eines Sturzes. Dasselbe gilt für Bohrhaken oder mobile Sicherungsmittel wie alle Arten von Klemmgerät (Friends, Camelots etc.)
Wer in den Haken greift, um sich hochzuziehen, hat verspielt. Er hat die Route nicht freeclimbing (Rotpunkt) geklettert. Für Durchschnitts-Alpinisten ist es schlicht unbegreiflich, welche Schwierigkeitsgrade die heutigen Extrem-Kletterer dabei meistern. Diese Spidermen und Spiderwomen bewegen sich unter Fels-Dächern oder auf völlig grifflosen vertikalen Platten mit einer Sicherheit, um die sie jede Eidechse beneiden würde. Christian Klucker hätte seine Freude.
In den sechziger Jahren , als ich das Klettern am Seil lernte, knotete man sich einen Gurt aus Reepschnur, band das Seil darin ein und hoffte, nicht zu stürzen. Die Seile waren zwar schon aus Kunststoff-Fasern, aber relativ dick und steif. Abseilen im Dülfersitz war gang und gäbe. Man hatte also bald einmal ein Gefühl für das freie Hängen im Seil, aber gleichwohl immer Angst vor Stürzen. Die Haken waren noch nicht eingebohrt oder einzementiert, man schlug sie mit dem Kletterhammer rein. Dass ein Haken rausflog, kam schon mal vor. Manche kletterten Jahre lang alpine Touren, ohne einen ernsthaften Seilsturz zu erleben. Für die durchschnittlich Begabten unter den Kletterern war der Sturz ins Seil tabu. Man erlebte ihn nur in Angstträumen.
Die neuen Seile: Wunder der Webtechnik
Mit dem Aufkommen des Sportkletterns ist alles anders geworden. Der Sturz ist heute Normalität der Kletterpraxis. Sportklettern, das heisst Klettern auf relativ kurzen und schwierigen Routen, die abgesichert sind mit Bohrhaken, entweder in der Halle oder am Fels. Sportkletterer gehen an ihr Limit und fallen. Sie fallen vielleicht zehn mal oder zwanzig mal - solange, bis sie eine schwierige Stelle geschafft haben. Sportklettern ist in den letzten 20 Jahren zur Massenbewegung geworden. Man rechnet, dass allein in den deutschsprachigen Alpenländern rund 600‘000 Leute diesen Sport betreiben.
Hätte Christian Klucker eines der heute üblichen Kunstfaser-Seile in die Hand nehmen dürfen, er hätte von einem Wunder der Webtechnik gesprochen. Sie sind weniger spröde, sie halten höhere Belastungen aus, sie sind imprägniert, ihre Reissfestigkeit ist reglementiert und wird streng kontrolliert. Die Seilmitte muss man nicht mehr selbst markieren, sie ist im Wechsel des Webmusters angezeigt.
In der Seilfabrik der Firma Mammut in Seon (AG) laufen die Webmaschinen Tag und Nacht.
Hier werden die Seile aus Nylon (Polyamid) gefertigt, tausend Meter Seil in 24 Stunden. Es besteht aus einem Kern, der die Hauptlast trägt, und einem Mantel, der den Kern schützt. Die Einfachseile sind oft nur noch 10 Millimeter dick oder sogar leicht weniger, Zwillingsseile um die 8 Millimeter. Ein 50-Meter-Seil wiegt heute noch zwischen drei und vier Kilos, ein geringes Gewicht im Vergleich zu früheren Zeiten. Der Dehnungsfaktor dieser Seile liegt bei 8 Prozent. So wird der Fangstoss beim Sturz auf ein Mass reduziert, das für den menschlichen Körper erträglich ist.
Die Hersteller von Kletterseilen sind einer rigorosen Kontrolle unterworfen. Der Internationale Alpinismuss-Verband UIAA hat Normen festgelegt für die Reissfestigkeit. Auch gilt es, EU-Normen zu erfüllen. Jedes neue Bergseil muss äusserst aufwendige Test- und Zertifizierungsverfahren durchlaufen, bis es in den Verkauf gelangt. Wie das funktioniert, erklärt Oliver Henkel, verantwortlich für die Seilentwicklung bei Mammut. Die Firma arbeitet zusammen mit der Universität Stuttgart und dem deutschen TÜV Süd bei der Zertifizierung ihres Klettermaterials.
In einem eigens für den Seiltest konstruierten Schacht werden bei Mammut neue Seile geprüft. Ein Metallteil von 80 Kg Gewicht (das entspräche einem robusten Alpinisten) wird am Seil befestigt. Ein Sturz von knapp fünf Metern Höhe wird ausgelöst, dabei werden die Seildaten elektronisch erfasst.
Kein Seil wird jemals völlig gegen Riss gefeit sein. Ein Steinschlag oder Eisschlag kann jedes, auch das beste und modernste Seil, durchtrennen. Und natürlich nützt das Seil nichts, wenn die Sicherung unzuverlässig oder schlecht eingerichtet ist. Beim Abseilen am Hundstein im Alpsteingebiet kamen 2005 zwei Kletterer ums Leben, als ein alter Haken ausbrach.
Für Mammut ist die Seilherstellung ursprünglich das Kerngeschäft. Der Schweizer Bergsportausrüster mit Tochterfimen in Deutschland, USA, Japan, Korea und China gehört heute mit 250 Millionen Franken Jahresumsatz zu den Grossen der Branche. Seine Wurzeln hat er im kleinen Handwerksbetrieb des Seilmachers Kaspar Tanner. Dieser gründete sein Geschäft 1862. In dem Jahr hütete der neunjährige Christian Klucker seine Kühe im Fextal und bestieg – wie er später schrieb - jeden Felsen, den er sah.
Es war die Zeit, in der der moderne Alpinismus und das Seilklettern ihren Anfang nahmen. Ein Jahr zuvor war die Erstbesteigung des Mont Blanc - inklusive Gipfelfoto – geglückt, und drei Jahre später gelang die Erstbesteigung des Matterhorns. Sie endete mit einem tödlichen Absturz, um dessen Ursache – ein gerissenes Hanfseil – es zu einem Gerichtsverfahren kam. Die Legenden und Mutmassungen über diesen Seilriss beschäftigten Generationen von Alpinisten.
Literaturhinweise:
Emil Zopfi: Dichter am Berg, Zürich 2009
Marco Volken: Badile, Kathedrale aus Granit, Zürich 2006