Die Momentaufnahme, als die deutsche Aussenministerin, Annalena Baerbock, in Damaskus den «starken Mann» Syriens traf, fand blitzschnell ihre Verbreitung in den Medien Deutschlands und einiger anderer Länder in Europa: Ahmed al-Sharaa verweigerte ihr den Handschlag, führte stattdessen aber eine Hand in die Herzgegend und verneigte sich kurz, aber höflich. Ein Zeichen des Respekts?
Oder einer Überzeugung, dass Frauen eben doch nicht vollwertige Mitglieder einer nahöstlichen Gemeinschaft sind? Auf jeden Fall ist leicht vorherzusehen, dass diese Aufnahme inskünftig bei jedem berechtigten oder unberechtigten Zweifel an der pro-demokratischen Gesinnung der Leute um al-Sharaa wieder hervorgeholt wird, als Beweis dafür, dass Hayat Tahrir al-Sham (HTS) sich eben doch nicht von der alten Verstocktheit in radikal-islamistischem Denken gelöst habe.
Westliches Dilemma in Sachen Sanktionen
Die syrische Zeitenwende stürzt die westliche Staatengemeinschaft ins Dilemma: Einerseits begrüssen alle Regierungen in Europa das Ende von Assads Brutalo-Regime. Anderseits zweifeln viele an der Echtheit des Pro-Demokratie-Reformwillens der neuen Führung in Damaskus. Wird sie sich so verhalten, dass sowohl die Uno-Resolution 2254 (sie forderte im Jahr 2015 vom Assad-Regime einen landesinternen Waffenstillstand und einen friedlichen Übergang von der Diktatur zur Demokratie) als auch die Sanktionen der Europäischen Union und die noch viel härteren, von den USA 2019 verhängten Sanktionen (Caesar Syria Civilian Protection Act) ausser Kraft gesetzt werden können?
Die so genannten Caesar-Sanktionen verbieten u. a. jegliche Art von Investitionen in Syrien und verunmöglichen so den Wiederaufbau der durch den Krieg breitflächig zerstörten Städte. Sie überlagern in ihrer Radikalität die von der Europäischen Union beschlossenen Sanktionen – und sind vor allem deshalb so folgenreich, weil sie die allfällige Aufhebung der EU-Sanktionen unterlaufen. Denn auch die europäischen Länder (auch die Schweiz) haben sich zur Einhaltung von «Caesar» verpflichtet.
Israelische und türkische Militärinterventionen
Die deutsche Aussenministerin zählte bei ihrem Besuch in Damaskus, schroff und ultimativ, die Bedingungen für wenigstens eine «allfällige» Aufhebung der EU-Sanktionen auf: Keine Präsenz von «radikalen Gruppen» auf syrischem Boden und Beginn des «Transitionsprozesses» nicht später als im März 2025. In diesen Übergangsprozess müssten alle ethnischen und religiösen Minderheiten, vor allem aber die Frauen, integriert werden. Die Verweigerung des Handschlags durch Ahmed al-Sharaa zeige aber «aus welcher ideologischer Ecke er kommt», daher sei Skepsis sehr wohl angebracht. Im übrigen sei es notwendig, dass «alle» die Integrität des syrischen Territoriums respektierten.
Dass die Türkei und Israel genau das nicht tun, erwähnte sie allerdings nicht – insbesondere Israel wird ja in den Erklärungen deutscher Politiker konsequent mit Fingerspitzen angefasst. Dass die israelische Luftwaffe fast täglich Angriffe gegen die militärische Infrastruktur Syriens führt, wird unterschlagen – ebenso wie die Tatsache, dass Israel vom annektierten Golan-Gebiet aus etwa sieben Kilometer in Richtung Damaskus vorgedrungen ist und jetzt diesen Landstreifen besetzt hält.
Echte Reformsignale?
Die Vorstellungen des Syrers al-Sharaa lauten recht anders als jene von Annalena Baerbock (ihren Besuch in Syrien absolvierte sie übrigens im Auftrag der EU, nicht der deutschen Regierung, und in Begleitung des französischen Aussenministers): Drei Jahre benötige das Land, um eine neue Verfassung auszuarbeiten, ein weiteres Jahr sei notwendig, um allgemeine Wahlen vorzubereiten. Also: vier Jahre und nicht ein paar wenige Monate.
Aber in einem Bereich zeigte er tatsächlich schon jetzt eine progressive Grundhaltung: er ernannte eine Frau (Maysaa Sabreen) als Chefin der syrischen Zentralbank, und für die Provinz Sweidah hat er ebenfalls eine Frau als Gouverneurin erwählt (Juhsina al-Muheithawi).
Sind das nun Anzeichen für echte Reformbereitschaft – oder sind es nur «Pflästerchen», dazu geeignet, westliche Regierungen milde zu stimmen und die erwähnten Sanktionen aufzuheben? Niemand kann das derzeit beurteilen – recht klar erkennbar ist aber der Zustand des Landes nach 13 Jahren Krieg: 140’000 Gebäude sind zerstört, 16 Millionen (von einer Gesamtbevölkerung von 23 Millionen) auf humanitäre Hilfe angewiesen, sieben Millionen Binnenflüchtlinge im eigenen Land, 1,9 Millionen Kinder haben noch nie eine Schule von innen gesehen. Die Kosten des Wiederaufbaus können nur geschätzt werden: auf zwischen 250 Milliarden bis eine Billion US-Dollar.
«Subito»-Rückkehr der Flüchtlinge?
Kein Wunder, dass sich daher bei den ins Ausland Geflüchteten (das sind nochmals etwa fünf Millionen Menschen) die Lust auf Heimkehr in Grenzen hält. SVP-Chef Marcel Dettling sagte wohl etwas leichtfertig über die ca. 25’000 Syrien-Flüchtlinge in der Schweiz: «Wenn Syrer in der Schweiz über das Ende von Assad jubeln, sollen sie auch gleich alle retour, aber subito!» Nein, «subito» ist gewiss nicht angebracht – und mittel- oder langfristig ist eine Rückkehr wohl auch nur unter der Voraussetzung zumutbar, dass in ihrem Land Stabilität wenigstens in Ansätzen erkennbar wird und dass ein Wiederaufbauprogramm anläuft. Und das ist ohne Aufhebung der Sanktionen – jene der EU und auch die von den USA verhängten «Caesar»-Sanktionen nicht vorstellbar.