Es fiel Schnee am 8. Dezember 2010. Zugegebenermassen ist dies in Paris ein seltenes Phänomen. So selten, dass dies den Innenminister sofort auf dem falschen Fuss erwischte und zu der historischen Aussage verleitete: „ Das Problem sind die Strassen, die eine Steigung haben“. Recht hat er, der Mann, der, um Verwurzelung im tiefen Frankreich vorzutäuschen, so tut, als käme er aus der Auvergne und dem Zentralmassiv, wo man Schnee eigentlich gewöhnt sein müsste.
"In der Kommuniktation nicht besonders gut"
Seine Kabinettskollegin, die für Verkehr und Umwelt zuständig ist, aus ihrer Herkunft aus den noblen westlichen Pariser Vorstädten aber keinen Hehl macht, verstieg sich anschliessend zu dem Satz : „Wenn es schneit, muss man warten, bis der Schnee gefallen ist, bevor man ihn beseitigen kann“ . Warum müssen Minister eigentlich immer etwas sagen, wenn sie nichts zu sagen haben ?
Auch Premierminister Fillon hätte besser geschwiegen. Er war kurz vor dem Schneechaos in eine noch kältere Region entschwunden und gab von Moskau aus zum Besten, der französische Wetterdienst habe nicht korrekt prognostiziert, deswegen seien in der Pariser Region Zehntausende stundenlang in ihren Autos gesteckt und hätten einige Tausend sogar die ganze Nacht darin verbringen müssen.
Auch diese Breitseite gegen den Wetterdienst war nachweislich Unsinn und der Regierungschef musste sich dafür fast umgehend entschuldigen. Er tat dies mit den Worten „ Wir waren in Sachen Kommunikation nicht besonders gut, ich allen voran“. Als hätte man mit einer besseren Kommunikation den Schnee und das damit einhergehende Chaos beseitigen können! Letztlich bedeutet dieser Satz doch nichts anderes als: „Wir haben schlecht gelogen.“
Grossraum Paris und Grossraum Wien
Dieses durch zehn Zentimeter Schnee verursachte Chaos im Grossraum Paris und die darauf folgenden Reaktionen sprachen Bände über das herrschende Klima im Land . Warum, fragt man sich, können Frankreichs Politiker in solchen Fällen nicht einfach die Wahrheit sagen ? Etwa sagen, dass es Situationen gibt, in denen diejenigen, die die Macht haben, schlicht machtlos sind. Dass die Region Paris , die „Ile de France“, in Europa ein Unikum ist. Dass hier auf nur 12 000 Quadratkilometern mehr als eineinhalb Mal die gesamte Schweizer Bevölkerung lebt – 12 Millionen Menschen! Dass sich auf dem extrem dichten Strassennetz dieser Region täglich mindestens 5 Millionen Autos tummeln!
Da kann man kommunizieren wie ein Weltmeister, es hilft nichts - wenn auf eine derart strukturierte Region Schnee fällt, geht eben nichts mehr – zumal wenn man in dieser Region gerade mal über sage und schreibe 80 Schneepflüge verfügt! Zum Vergleich: der Grossraum Wien etwa, mit gerade einem Sechstel der Bevölkerung , vom weniger dichten Strassennetz und dem geringeren Verkehrsaufkommen ganz zu schweigen, hat 400 solcher Räumgeräte!
Um der Bevölkerung vorzugaukeln, die Regierung könne etwas tun, hat man dann, vor der nächsten Schneefallwelle in dieser Megaregion, kurz vor Weihnachten, ein Dutzend Armeefahrzeuge an den Strassenrand gestellt und diese hilflose Aktion Stunden lang im Radio angekündigt, mit der unterschwelligen Botschaft: „ Bürger, wir wachen über euch“ . Nicht zu vergessen die geniale Idee der Präfektur der Region Paris, die am Nachmittag, bevor der zweite Schnee kam, die Arbeitgeber aufforderte, das Personal, wenn möglich, ab 16 Uhr nach Hause zu entlassen - das historisch grösste Stauchaos in der Region mit über 450 Kilometern verstopften Strassen und Autobahnen war die Folge -und dies ganz ohne Schnee. Der fiel erst wenige Stunden später.
Der Staat kann nicht alles
Über vier Wochen liegt das erste Schneechaos jetzt zurück, mehr als 14 Tage das zweite und das Land sucht immer noch nach einem Schuldigen, nach dem Motto: irgendjemand muss doch zur Verantwortung gezogen werden können! So ist nun mal die Stimmung in diesem Land , in dem der Staatspräsident das Wort Sicherheit so unendlich gross geschrieben hat und die Vorstellung sehr verbreitet ist, der Staat müsse für alles eine Lösung haben.
Gleichzeitig verfügt praktisch kein einziger Haushalt in der Region Paris über eine Schneeschippe, um die Bürgersteige vor den Häusern frei zu räumen. In 30 Jahren hat man noch nie einen Pariser mit einem derartigen Gerät hantieren sehen. Ganz zu schweigen von der weiblichen Bevölkerung in der Seine- Metropole, die unter keinen, auch noch so winterlichen Umständen bereit ist, sich vom eleganten, leichten Schuhwerk zu trennen. Und wenn Stiefel, dann nur mit Ledersohlen und 5 Zentimeter hohen Stöckelabsätzen. Schweres Schuhwerk, welches Halt bietet, anzulegen wäre offensichtlich ein ebenso schlimmes Vergehen gegen Stil und Eleganz, als würde man sich die Haare unter den Achseln nicht regelmässig rasieren.
Schuldige müssen her
Auch einem französischen Schriftsteller ist dieser merkwürdige Umgang mit den winterlichen Verhältnissen aufgestossen. Benoît Duteurtre schrieb, unter der Überschrift „ Warum hat die Bretagne keine Schneepflüge?“ (ganz einfach , weil es dort normalerweise nicht schneit ), die Zeilen : „ Der harte Winter gleicht einer Art Skandal, angesichts dessen unsere Gesellschaft nur eine Lösung kennt: der Schuldige muss ausgemacht werden.“ Und der Autor fährt fort : „ Das Ende des Jahres 2010 hat den Bürgern Frankreichs die Verletzlichkeit einer formatierten, organisierten, beschützten und bis zur Besessenheit informierten Welt vor Augen geführt, die bei der geringsten Panne einzustürzen droht und sich verhält, als würde ihr die Decke auf den Kopf fallen. Und dies in einer Gesellschaft, in der man wie besessen über alles wacht, was mit Vorsichtsmassnahmen und Sicherheit zu tun hat.“
Entsprechend hob auch der Staatspräsident höchstpersönlich zum neuen Jahr, in trockenen Schuhen und geheizten Räumen, den drohenden Zeigefinger und erklärte, was da während der Schneefallperiode passiert sei , sei inakzeptabel und forderte Konsequenzen.
Das Kreuz am Grossflughafen Roissy
Und weil eben zumindest ein Verantwortlicher her muss, schiesst man sicht jetzt auf den internationalen Grossflughafen Roissy Charles De Gaulle ein und dort auf die Betreibergesellschaft „ Aeroports de Paris“. Natürlich war es ein wenig peinlich, dass auf dem Flughafen das Glykol , mit dem die Flugzeuge enteist werden müssen, knapp wurde, weil im südfranzösischen Marseille die Firma, die dieses Produkt - das auch schon mal österreichischem Wein untergemischt worden war- herstellt, gerade streikte.
Und doch: dieser Flughafen , kann normalerweise 50 Maschinen in der Stunde enteisen, das heisst ein Flugzeug pro Minute – mehr ist kaum denkbar. Bei besonders dickem Schnee dauerte dieser Vorgang länger und schon kam der Zeitplan dieses Riesenflughafens durcheinander, wo zur Rush Hour auf vier Pisten normalerweise alle 90 Sekunden ein Flugzeug startet oder landet. Roissy ist neben London Heathrow der wichtigste und grösste Hub in Europa, ein Drehkreuz für interkontinentale Langstreckenflüge und innereuropäische Anschlussflüge und verfügt über insgesamt 220 Kilometer an Landebahnen und Wegstrecken, die es zu räumen gilt - das entspricht der Strecke Zürich – Lausanne!
Wenn man dann auch noch bedenkt, dass London, Frankfurt, Brüssel und Genf ihre Airports zwischenzeitlich schlicht geschlossen hatten und abertausende Fluggäste etwa von London nach Paris umgeleitet worden waren, so konnte dieser Flughafen, der durchgehend offen blieb, nicht anderes als überfordert sein, zumal auch die Züge Paris – London durch den Ärmelkanaltunnel nur zu 50 Prozent verkehrten und ohnehin überbelegt waren.
Die Unversehrtheit des Gepäckpersonals
Schockierend - und zugleich bezeichnend für die Stimmung und die sozialen Beziehungen in der französischen Gesellschaft - war allenfalls die Tatsache, dass die Gepäckträger in Roissy angesichts von 10 Zentimeter Schnee bei dem ohnehin schon herrschenden Chaos doch tatsächlich von ihrem „ Droit de Retrait“ Gebrauch machten, die Arbeit niederlegten, mit der Begründung , ihre körperliche Unversehrtheit sei nicht mehr gewährleistet.
In einer aussergewöhnlichen und angespannten Situation, in der man sich eher Hilfsbereitschaft und Solidarität erwarten würde, gewannen Egoismus und Wurstigkeit die Überhand. Dass zehntausende, ohnehin schon völlig genervte Menschen, dadurch noch zusätzlich Probleme bekamen, war den Serviceleuten offensichtlich egal - als nach Weihnachten der Flugbetrieb wieder normal war, warteten in Roissy immer noch 25 000 Gepäckstücke darauf, an ihre Besitzer ausgeliefert zu werden.
Welktmeister im Pessimismus
Dieser Schneefall hat an Frankreich genagt, viele Menschen verunsichert und die Anfälligkeit eines Landes demonstriert, in dem das Miteinanderleben immer komplizierter zu werden scheint. Dass Politiker sich während der Ereignisse wie Stümper verhalten haben und hinterher in die Rolle der strengen Zuchtmeister schlüpften , macht das Ganze nicht erträglicher.
Kein Wunder, sagt man sich, dass den Franzosen der Optimismus abhanden gekommen ist. Denn ausgerechnet zum Jahresbeginn 2011 haben sie es aus einer internationalen Meinungsumfrage schwarz auf weiss bekommen: sie sind Weltmeister im Pessimismus , keine Bevölkerung eines anderen Landes schaut so düster in die Zukunft wie die französische. Angesichts dessen erstaunt es nicht, dass die Franzosen auch noch über einen zweiten, permanenten Weltmeistertitel verfügen: sie haben den grössten Pro-Kopf-Verbrauch von Beruhigungsmitteln und Psychopharmaka. Von wegen „Leben wie Gott in Frankreich“.