“Im 19. Jahrhundert waren wir eine revolutionäre Nation; heute sind wir eine der konservativsten der Welt. Wir selbst verspüren diesen Wandel wenig. Aber jeder ausländische Betrachter verspürt ihn umso mehr.” (Max Imboden 1964, in: Georg Kreis, Das Helvetische Malaise…, 2011, S.16)
Die schweizerische Europapolitik steckt in der Sackgasse. Auf der einen Seite wird klar, dass der bilaterale Weg zu Ende ist, weil von der EU nicht mehr akzeptiert, auf der anderen Seite fehlen in der Schweiz Mut und Weitblick zum Befreiungsschlag. In zwei Teilen soll im Folgenden untersucht werden, warum und wie es erstens so weit kommen konnte, und zweitens, wie und warum eine offene und integrative Europapolitik als einzig möglicher Ausweg bleibt.
Irrationale Europapolitik
Am Ausgangspunkt steht die Tatsache, dass, würde sich die Schweiz aussenpolitisch rational verhalten, wir Anfang der neunziger Jahre zusammen mit den anderen ehemals neutralen Ländern Finnland, Österreich und Schweden der EU beigetreten wären. Zum Zeitpunkt also, da sich nach dem Jahrhundertwandel in Osteuropa ein politisch geeinigtes Europa im Rahmen der EU abzeichnete und wirtschaftlich nur noch eine Möglichkeit blieb, nämlich der möglichst enge Anschluss an den Werk- und Dienstleistungsplatz Europa, wiederum allein vetreten durch die EU.
Spätestens dann war klar, dass es in Europa keine Souveränität im Sinne des 19. Jahrhunderts mehr gab und je wieder geben konnte. An deren Stelle trat eine Soveränität durch Teilnahme. Teilnahme an der Gestaltung des zukünftig gemeinsamen Schicksals von Europa, welchem die Schweiz ohnehin ausgesetzt ist.
Fünf Gründe für die Mühen der Schweiz mit Europa
Es sind zumindest fünf Gründe, warum die Schweiz grosse Mühe bekundet, europapolitisch rational, und nicht mit “dem Gegenteil von politischer Intelligenz” (Daniel Binswanger) zu denken und handeln.
Am Anfang steht die übertriebene Glorifizierung des nationalen Widerstands als vermeitlich wichtigstem Grund für schweizerische Unversehrtheit im 2. Weltkrieg. Dies führte zweitens zu einer Verabsolutierung des Neutralitätsbegriffes in zahlreichen offiziellen Verlautbarungen, im Wechselspiel mit der öffentlichen Meinung. Dazu kam die missbräuchliche Verwendung des Neutralitätsbegriffes durch Wirtschaftsinteressen in Bereichen, wo eine völkerrechtlich definierte Neutralität und eine davon abgeleitete Neutralitätspolitik keinerlei Platz oder Funktion hatte und hat.
Viertens wurde der grundlegende sicherheitspolitische Wandel in der Folge der europäischen Zeitenwende nach 1990 von den meisten verkannt. Die Neutralität verlor ihre letzten Grundlagen: Neutral zwischen wem? Wenige grosse Zeitzeugen haben dies immerhin schon damals in der gesamten Tragweite gesehen. So etwa Max Petitpierre, als Aussenminister zu Beginn des kalten Krieges einer der wichtigsten Architekten der damaligen Neutralitätspolitk, die nun hinfällig wurde. Seine 1989 erhobene Forderung, nun sei der Zeitpunkt für den EU-Beitritt gekommen, ist glaubwürdig überliefert.
Schliesslich setzte in den neunziger Jahren der Vormarsch der Rechtsnationalisten in der schweizerischen Politlandschaft ein, ausgelöst und weiterhin getragen durch eine in der modernen Geschichte des Landes einmaligen Kampagne weniger Milliardäre, welchen es primär um eigene Macht und Interessen geht. Befremdlich, wie auch keineswegs rechtsnationalistische Schweizer sich durch solch biedermeierisch verbrämte Arroganz von Geld und Macht beeindrucken lassen, sei dies bewusst oder unbewusst, etwa im Sinne der kampflosen Preisgabe des schweizerischen Heimatbegiffes an die Rechte.
Europhobie und Volkstümelei gegen „fremde Richter“
Diese hat ihre eidgenössische Volkstümelei untrennbar mit virulenter Europhobie verkoppelt. Solches geschieht zwar ebenfalls in zahlreichen anderen Ländern Europas. Keine dieser offen europhoben Parteien haben indes auch nur annähernd eine Bedeutung wie die SVP in der Schweiz. Da reibt man sich anderenorts wohl die Augen: Wie kommen die sonst politisch so rationalen Eidgenossen dazu, den Präsidenten der wählerstärksten Partei seine eigene Regierung wegen ihrer Europapolitik ungestraft Landesverräter schimpfen zu lassen? (Wie dies laut kommentarlos wiedergegebener Berichterstattung des Schweizer Fernsehens Toni Brunner anlässlich der letzten Delegiertenversammlung der SVP tat.)
Die gegenwärtige virulente Diskussion über die “fremden Richter” ist bestes Beispiel einer nationalistisch aufgekochten Spiegelfechterei, welche indes die gesamte schweizerische Polit-Bühne zu beherrschen scheint. Richter sind erstens grundsätzlich unabhängig, und nicht dem politischen Diktum eines Staates verpflichtet – weder dem eigenen noch einem fremden – und richten zweitens über Materien, welche ihnen auf Grund demokratischer Entscheidungen zugewiesen und für die sie kompetent sind. So richtet der Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg über Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention, welcher auch die Schweiz angehört. Weil wir ein den Menschenrechten verpflichteter Rechtstaat sind. Der Streitschlichtungsausschuss der Welthandelsorganisation wiederum entscheidet über die unterschiedliche Auslegung von WTO-Verpflichtungen. Die Schweiz gehört ihm an, weil wir an Konfliktlösung in der Weltwirtschaft grösstes Intresse haben. Das internationale Schiedsgericht von Juristen wirkt bei grossen und grössten internationalen Geschäften innerhalb des Privatsektors oft als Schlichtungsinstanz bei Vertragsverletzungen.
Legitimer Anspruch des EU-Rechts
Die EU hat für die Auslegung und Überwachung ihrer eigenen Verträge den Europäischen Gerichtshof EuGH geschaffen. Wo Aussenstehende EU-Regeln übernehmen, wie das die Schweiz im Rahmen ihrer bilateralen Verträge mit der EU als sogenannter autonomer Nachvollzug getan hat und weiter tun will, sieht sich der EuGH, ebenso selbstverständlich wie einsehbar, als einzige und entscheidende Schiedsinstanz. Unsere Materie, also unsere Richter.
Geändert gegenüber früher hat sich lediglich, dass der Anspruch des EU-Rechtes generell in Zukunft besser durchgesetzt werden soll. Im Innern der EU, wie ein Beispiel mit dem Neumitglied Kroatien mit Bezug auf EU-Haftbefehle kürzlich gezeigt hat, ebenso wie in ihren Assoziationsbeziehungen – wie eben mit der Schweiz. Dies für alle künftigen vertraglichen Verpflichtungen; daher die Notwendigkeit, das institutionelle Problem mit der Schweiz ein für alle Male zu lösen. Mit einer Schweiz, welche in der Perspektive von Brüssel nicht völkerrechtlicher Vertragspartner der EU ist, sondern vom Grossmarkt Europa profitierende Mitläuferin sein will. Das hat nichts mit “fremden Richtern” sondern mit dem Wegfallen einer bisherigen Extrawurst zu tun.
Warum die Schweiz solche nicht länger am eigenen Feuer braten, aber trotzdem am europäischen Tisch mitessen kann, was sie will und muss, wird in einem zweiten Teil zur Sprache kommen.
“Auch unsere (europäischen) Freunde verstehen uns nicht mehr.” (Zitat aus dem internen Schlussbericht des schweizerischen Vertreters bei der EU, Jacques de Wattenwil, wie anlässlich seiner Ernennung zum Staatssekretär am 3.9.2013 in allen schweizerischen Medien veröffentlicht.)