Die erniedrigende Wahl ist die letzte Pirouette der Schweiz in ihrem Eiertanz, um sich um ein klares Verhältnis zum Binnenmarkt der EU herumzudrücken. Wie ist das gekommen? Hätten wir das vermeiden können? Machen wir eine Gedankenreise, fast dreissig Jahre lang, von der Geburt des Problems bis zu diesen letzten Zuckungen.
Ein paar Wahrheiten vorweg
Vorher aber noch ein paar elementare Wahrheiten. Die EU fordert von uns den Nachvollzug ihrer Änderungen am Binnenmarkt. Die Schweiz hat kein Recht, darüber mitzubestimmen. Er ist eine Schöpfung allein der EU mittels einer Methode, der wir uns konsequent verweigern: Unterordnung unter die Meinung der Mehrheit. Nur dank Mehrheitsabstimmungen ist der Binnenmarkt überhaupt zustandegekommen. In den Verhandlungen, welche die Tausenden von nationalen Regeln durch einheitliche EG-Normen ersetzten, erreichten die damaligen zwölf EG-Länder oft einen Konsens, aber bei umstrittenen Themen musste abgestimmt werden. Der Binnenmarkt ist einer der EU-Politiksektoren, er untersteht ihrer alleinigen Verantwortlichkeit und ihrem Recht. Darum hat die EU das alleinige Recht auf Beschlüsse über ihn.
Nichtmitglieder haben keinen Anspruch auf Teilnahme, doch hat die EU unseren Unternehmen und Produkten die wichtigsten Binnenmarktsektoren über bilaterale Abkommen geöffnet. Nichts verpflichtete sie dazu, und die Abkommen schaffen kein Mitbestimmungsrecht. Es ist auch selbstverständlich, dass unsere Unternehmen wie alle anderen die Regeln dieses Binnenmarkts einhalten müssen. Auch jene, die von der EU laufend neuen ökologischen Ängsten oder technologischen Innovationen angepasst werden, ohne dass wir mitbestimmen. Der Zugang zum Binnenmarkt ist ein Geschenk der EU, keine Pflicht und kein Recht.
Das Zittern in der Schweiz
Hält man diese Wahrheiten zusammen, dann gibt es nur einen Schluss: Solange wir nicht EU-Mitglied sind, hat die Schweiz die von der EU vorgenommenen Änderungen im Bereich der bilateralen Abkommen ohne Mitbestimmung nachzuvollziehen. Wir haben uns zwanzig Jahre lang um diese Wahrheiten herum- und die EU hat ein Auge zugedrückt. Jetzt hat sie genug und verlangt den Nachvollzug ihres Binnenmarktrechts.
Zurück zum Anfang: Es begann 1985: Die EG, wie sie damals noch hiess, baute in 8 Jahren einen Binnenmarkt auf, und die Schweiz war davon ausgeschlossen. Als um 1988 klar wurde, dass er zustandekommt, begann das Zittern in der schweizerischen Exportwirtschaft. Ab 1993 konnte die EG-Konkurrenz in einem Riesenmarkt operieren, der von allen Grenzkontrollen befreit war - unsere Unternehmen trafen weiterhin auf alle die Schikanen, die die EG dank der Harmonisierung der nationalen Sicherheits-, Gesundheits-, Umwelt-, Sozial-, technischen und vielen anderen Normen abschaffte.
Die EG offeriert den EWR
Sechs andere Länder, die sich 1960 mit der Schweiz zur unpolitischen Freihandelszone EFTA zusammengeschlossen hatten, teilten die gleiche Kalamität. Die EG zeigte aber Verständnis für ihre Diskriminierungssorgen und offerierte ihnen 1989 den Zugang zum Binnenmarkt ohne Mitgliedschaft: den EWR, den Europäischen Wirtschafts-Raum. Mitbestimmung haben EWR-Mitglieder nicht, aber das Recht, bei seiner Fortentwicklung mitzudiskutieren. Sie können den Nachvollzug einer neuen EG-Binnenmarktvorschrift, wenn sie darüber einig sind, auch verweigern („kollektives Opting-out“). Dann hat die EG das Recht auf Gegenmassnahmen, die aber “verhältnismässig“ sein müssen, das heisst nur das handelspolitische Gleichgewicht wiederherstellen dürfen. Die EWR-Mitglieder haben das Opting-out in zwanzig Jahren nie angerufen, der Nachvollzug bereitete ihnen keine unüberwindlichen Probleme.
England und Dänemark waren schon 1973 in die EG übergetreten, Portugal 1986. 1995 folgten ihnen Österreich, Schweden und Finnland. Von den letzten vier EFTA-Ländern akzeptierten Norwegen, Island und Liechtenstein den EWR. Die Schweiz lehnte ihn am denkwürdigen Klaustag 1992 ab. So wollten es 14 Stände und 50,3 Prozent des Volks. Die Hälfte, nicht wie Christoph Blocher seither sagt, „das Volk“.
Allein in Europa
Nun stand die Schweiz allein in Europa. Es begann ein Alleingang, der uns zwanzig Jahre lang in Zickzackwegen bis zum Bundesratsvorschlag geführt hat, uns EU-Richtern zu unterstellen. Um uns ist es einsam geworden. Sämtliche anderen Länder Europas unterziehen sich heute im EWR oder in der EU gemeinsamen Binnenmarktregeln oder streben danach, der EU beizutreten. Als einziges wollen wir eine Sonderbehandlung. Auf gut schweizerisch eine Extrawurst.
Und noch einmal zeigte die EU, wie sie seit 1993 heisst, Verständnis für dieses eigensinnige Land. Sie ging 1999 auf unseren Wunsch ein, den Zugang zum Binnenmarkt „sektoriell“ zu lösen, auf den für beide Seiten wichtigsten Sektoren. Diese „bilateralen“ Abkommen der EU einzig mit der Schweiz traten 2002 in Kraft.
Die Bilateralen – allein für die Schweiz
Das hatte seinen Preis. Die EU verlangte zwei Gegenleistungen, die uns schwer fielen: die Erhöhung unseres Maximalgewichts für Lastwagen von 28 auf 40 Tonnen und die Freizügigkeit für alle Arbeitnehmer. Wir mussten auch die „Guillotineklausel“ schlucken: Unter dem Druck der Spanier und Portugiesen, die eine isolierte Schweizer Kündigung des Freizügigkeitsabkommens fürchteten, zwangen uns die EU-Länder die Klausel auf, dass dann auch alle anderen Abkommen dahinfallen werden. Die Schweiz soll nicht aus den Abkommen aussteigen können, die ihr nicht passen. Nur alle zusammen schaffen ein Interessengleichgewicht.
Ein Detail im Freizügigkeits-Abkommen zeigte noch einmal ein erstaunliches Eingehen der EU auf Schweizer Besonderheiten: Sie öffnete sich allen Schweizer Arbeitsuchenden nach zwei Jahren, gewährte uns jedoch 12 Jahre lang eine Bremse gegen zuviel EU-Einwanderer, eine Kontingentierung, die wir mit der „Ventilklausel“ zum letzten Mal bis im Ende Mai 2014 haben verlängern können. Zwei Jahre Wartezeit für uns, zwölf für die EU! Da kann man wohl entgegen dem gängigen EU-Cliché von Grosszügigkeit sprechen.
Jetzt ist Schluss
Die EG-Länder übersahen aber einen Webfehler in diesen Abkommen: Sie machten aus der Diskriminierung der Schweiz eine Privilegierung! EU-Ministerrat und -Parlament, die beiden EU-Beschlussorgane, verschärften für ihre eigenen Unternehmen und Produkte in kurzen Abständen die Binnenmarkt-Vorschriften, für unsere Schweizer Firmen gelten seit elf Jahren unverändert die milden Bestimmungen von 2002.
Damit ist jetzt Schluss. Die EU hat es gemerkt und fordert seit 2008 den schnellen Nachvollzug ihrer Verschärfungen des Binnenmarktrechts. Damit wird die empfindlichste Schwelle unserer Europapolitik getroffen: Das wäre ein schwerer Einbruch in unsere Souveränität. Die Schweiz hätte auf breiter Front fremdes, von uns nicht beeinflussbares Recht zu übernehmen! Damit begann die jüngste Phase unseres Seiltanzes, die uns bis zur Anerkennung „fremder Richter“ führen wird – paradoxerweise gerade weil wir uns vom 700 Jahre alten Anti-Gessler-Mythos im 21.Jahrhundert immer noch diktieren lassen, der EU möglichst fern zu bleiben.
Die letzten Zuckungen der Schweizer EU-Politik
Der Bunderat wand und wand sich gegenüber der EU und gegenüber dem Schweizervolk, um diesem Dilemma und seiner Diskussion auszuweichen. Er hat uns nie klar gesagt, dass wir kein Recht auf Mitbestimmung im Binnenmarkt haben, solange wir uns weigern, der EU beizutreten. Oder dem EWR, wo wir wenigstens mitreden könnten. Der Bundesrat vermeidet es aus Angst vor dem helvetischen Anti-EWR-Syndrom sogar, dieses Unwort auszusprechen.
Das hat wahrscheinlich auch bei seinem Entscheid mitgespielt, die EU-Richter dem EFTA-Gerichtshof der EWR-Länder vorzuziehen, wo ein Schweizer Richter neben den drei anderen sässe. Der Bundesrat scheint auch Angst zu haben, diese anderen hätten zu wenig Verständnis für die Besonderheiten der Schweiz. Es ist noch nicht einmal sicher, ob die Norweger und Isländer bereit wären, dieses Gericht einem Nicht-EWR-Land zur Verfügung zu stellen. Man hat mit ihnen noch gar nicht gesprochen.
Eine Ohrfeige nach der anderen
Mit scharfer Zurückweisung reagierte die EU auf zwei Bundesratsvorschläge, die eine Frechheit waren und nur mit mentaler Ferne von den Realitäten im heutigen Europa erklärt werden können. Erstens sollten vom Nachvollzug nur künftige, noch gar nicht existierende Abkommen betroffen werden, der ganze Korpus der 16 bisherigen mit ihren Privilegien für unsere Firmen aber unangetastet bleiben! Und über Streitigkeiten mit der EU solle ein rein schweizerisches Gericht urteilen, das Bundesgericht! Die EU zwang ihn auf drei Optionen zurück, unter denen er die Anerkennung der EU-Richter noch für die beste hält. Manche Schweizer finden das eine Erpressung der EU, es ist aber eine Selbstverständlichkeit. Wer im Binnenmarkt mitspielen will, hat die Regeln und auch die Richtersprüche der Gemeinschaft zu akzeptieren, die ihn geschaffen hat.
Nun muss uns also der Bundesrat fremde EU-Richter vorschlagen, er streut uns aber mit dem Argument, sie erliessen „nur Gutachten“, Sand in die Augen, denn die Gutachten sind nach seiner eigenen leise geäusserten Aussage zwingend. Doch der Bundesrat kann nicht anders, und er ist nicht einmal der Hauptschuldige. Der Hauptschuldige ist die hartnäckige Weltfremdheit des Schweizervolks immer noch zu glauben, man könne an allen uns interessierenden Leistungen der EU teilnehmen, ohne EU- oder mindestens EWR-Mitglied zu sein. Unsere Weltfremdheit ist so stark, dass uns weder der Bundesrat noch ein Politiker diese Wahrheit in ihrer Brutalität zu sagen wagt.