Nur ein einziges Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte gab es im Bundestag eine absolute Mehrheit. Das war in den Jahren 1957 bis 1961, und der Bundeskanzler hieß Konrad Adenauer. Von seinen Nachfolgern konnten später Kurt Georg Kiesinger (1969) und Helmut Kohl (1976) an der Chance zur Alleinregierung der CDU/CSU schnuppern; seit dem 22. September gehört nun auch Angela Merkel zu diesem Club der "Beinahe-Absolutisten". Doch der süße Duft eines Totalerfolges wehte nur kurze Zeit durch die Berliner CDU-Parteizentrale. Dann stand endgültig fest: Trotz des unerwartet hohen Wahlgewinns müssen sich die Kanzlerin und ihre Strategen jetzt den Mühen der Ebenen stellen und nach einem Regierungspartner suchen.
Unter internationaler Beobachtung
Natürlich, diese Bundestagswahl war eine nationale Entscheidung. Es galt, den nächsten Deutschen Bundestag zu bestimmen. Doch allein schon die Zahl von rund 1 200 eigens angereisten ausländischen Berichterstattern zeigte, dass und wie sehr das Ergebnis dieses Urnenganges auch außerhalb der deutschen Grenzen verfolgt wurde. Nicht zuletzt die europäischen Nachbarn warten gespannt darauf, wie sich Deutschland in Zukunft europapolitisch positionieren und wie sich die Berliner Regierung in Sachen Euro-Krise und Euro-Rettung verhalten wird. Bei Themen und Problemen also, die während des zurückliegenden Wahlkampfs eine höchstens untergeordnete Rollen spielten.
Wenn also jetzt kräftig spekuliert wird, wer sich wohl nach Abschluss der nun anstehenden Verhandlungen letztlich als Koalitionspartner für Angela Merkel und die Union zur Verfügung stellen wird, dürfen diese Aspekte ebenso wenig außer Acht gelassen werden, wie seit langem drängende innen- und sozialpolitische Aufgaben. Als da beispielsweise wären: Endlich wirklich durchdachte Strategien zur Bewältigung der ehrgeizigen Energiewende (also weg von atomarer und fossiler und hin zur erneuerbaren Energie); energische Bildungsoffensiven mit tatkräftiger Förderung, aber auch Abforderung von Leistung; größere Bemühungen bei der Integration von Zuwanderern, ebenfalls mit Fördern u n d Fordern; massiver Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit und -Armut, wofür freilich ebenfalls erhöhte Angebote sowie die Bereitschaft zur Bildung absolute Voraussetzung sind - allen voran das Erlernen und Beherrschen der deutschen Sprache; weitere Anstrengungen für eine externe Betreuung von Kindern, um vor allem Frauen ein Berufsleben zu ermöglichen. Die Liste könnte unschwer noch deutlich verlängert werden.
SPD oder Grüne
Hätten die Freien Demokraten am Sonntag die rettende Fünf-Prozent-Hürde übersprungen, wäre für Merkel die Sache relativ einfach gewesen: Gewiss hätte es auch dort beim Ausformulieren des Koalitionsvertrages Raufereien gegeben, aber man kannte sich und wusste, was man aneinander hatte. Doch nun ist die FDP (zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte) von den Wählern halt aus dem Bundestag gekippt worden. Und erst einmal draußen, wird die Rückkehr von den Liberalen gewaltige Anstrengungen sowohl inhaltlich-politischer als auch personeller Art erfordern. Theoretisch (weil rechnerisch) wäre für Angela Merkel jetzt natürlich auch ein Bündnis mit den Grünen möglich. Käme so etwas zustande, hätte das ohne Frage schon eine historische Dimension. Denn es würde das Aufbrechen der traditionellen "linken" und "rechten" Blöcke in der deutschen Politik bedeuten.
Und warum sollte das schwierige Werk der Energiewende nicht sogar gerade von diesen beiden Kräften zu bewerkstelligen sein? Für die Grünen zählen seit ihrer Gründung in den 80-er Jahren umweltfreundliche Energien ohnehin zu den Kernthemen. Und mag man die Kanzlerin kritisieren, dass sie erst unter dem Eindruck der Atomkatastrophe im japanischen Kraftwerk Fukushima einen Sinneswandel vollzogen hat - er ist immerhin erfolgt und inzwischen auch offizielle Politik. Doch wer das Innenleben der einstigen Sonnenblumenpartei kennt, der weiß, dass noch immer selbst nur bloße Gedankenspiele mit einer grünen Annäherung an schwarz im Fußvolk zu Aufständen führen würden; weiterführende Aktionen hätten mit höchster Wahrscheinlichkeit sogar ein Zerreißen der Partei zur Folge.
Bleiben also die Sozialdemokraten. Und vermutlich wird es am Ende auch dazu kommen. Sicher, die SPD leidet immer noch an dem Trauma von 2009. Vier Jahre lang hatte die Partei davor in der von Angela Merkel geführten Regierung kräftig mitgearbeitet. Ja, in entscheidenden und dramatischen Stunden - als es etwa um die Rettung maroder und verzockter Großbanken ging - waren es Politiker wie der am Sonntag gescheiterte Spitzenkandidat Peer Steinbrück oder Außenminister Frank-Walter Steinmeier, die sich als Felsen in der Brandung erwiesen. Allein, am Wahltag wurden all diese Mühen als Erfolge der Kanzlerin in die Scheuer gefahren, während die Genossen nahezu ins Bodenlose abstürzten. Das wirkt nach und ist ja auch der Grund dafür, dass Steinbrück von Beginn seiner Kandidatur an kategorisch eine Rückkehr in ein Merkel-Kabinett ablehnte.
Eine staatstragende Partei
Andererseits - es sind ja keineswegs nur negative Erfahrungen, welche die Sozialdemokraten in Großen Koalitionen gemacht haben. Auch wenn das schon sehr lange her ist. 1966, nach dem Scheitern von Wirtschaftswunder-Vater Ludwig Erhard, ging die SPD praktisch als Nothelfer in eine vom Christdemokraten Kiesinger geführte Regierung. Es waren große Namen dabei: Prof. Karl Schiller (zusammen mit Franz-Josef Strauß als Plisch und Plum berühmt geworden), Alex Möller, Herbert Wehner, natürlich auch Willy Brandt. Die Folge war, dass nach der Wahl 1969 die Genossen mit der FDP eine Mehrheit bilden und gemeinsam z. b. die Ostpolitik vorantreiben konnten. Und jetzt? Es steht ja nicht allein der Satz des einstigen SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering im Raum: "Opposition ist Mist". Vielmehr ist es eine Binsenweisheit, dass politische Gestaltung aus der Regierung heraus erfolgt. Oppositionelle Initiativen versanden in der Regel, oder werden von der Regierung übernommen und dieser im Zweifel auch gutgeschrieben.
Bei der SPD kommt im Übrigen ein Weiteres hinzu, das nicht zuletzt mit ihrer 150-jährigen Geschichte zusammenhängt: Sie ist eine zutiefst staatstragende Partei. Ob in Krisen oder auch nur in schwierigen Situationen - die "Sozis" haben sich nie verweigert. Und das wird ganz gewiss auch jetzt nicht anders sein. Darüber hinaus ist die momentane Situation der SPD mit Blick auf ein mögliches Bündnis gar nicht so schlecht. Sicher, es ist wahr: Ungeachtet des Zugewinns am Sonntag von rund 2,5 Prozent blickt die Partei auf das insgesamt zweitschlechteste Wahlergebnis in der Nachkriegsgeschichte.
Richtig und zugleich deprimierend ist ebenfalls: Wenn eine Partei, die immerhin schon mal mehr als 40 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigte, jetzt bei 25 Prozent herumkrebst, dann fällt es schwer, ihr noch das Prädikat "Volkspartei" zuzugestehen. Aber, unabhängig von alldem, werden die Genossen jetzt gebraucht. Und dies auch noch von der Frau, die fast die absolute Mehrheit gewonnen hätte - aber eben nur fast. Das bedeutet, sollte die SPD tatsächlich in Koalitionsverhandlungen eintreten, dann kann sie selbstbewusst Bedingungen stellen.
Wunschbündnis der Bürger
Ein erstaunliches Phänomen war ohnehin schon in den vergangenen Monaten erkennbar: Ausgerechnet die Bundesbürger, die in früheren Jahren Großen Koalitionen stets ablehnend gegenüber standen, favorisierten dieses Mal genau dieses Modell. Nun kann man trefflich darüber nachsinnen, welches die Gründe für diesen Sinneswandel sind. Wahrscheinlich gehört zuvorderst der Wunsch nach politischer, sowie wirtschafts- und finanzpolitischer Stabilität dazu. Dies nicht zuletzt mit Blick auf tatsächliche oder befürchtete Turbulenzen im Zusammenhang mit der Gemeinschaftswährung Euro.
Für diese Sorgen spricht auch der in dieser Höhe unerwartete Erfolg der Euro- und Europa-kritischen Jungpartei Alternative für Deutschland (AfD). Diese (vor allem ihre Initiatoren) jetzt als "rechtspopulistisch" abzuqualifizieren, ist albern. Ihr Emporkommen spiegelt lediglich Ängste wider, die in der Bevölkerung nun einmal vorhanden sind. Nur etwas weniger als fünf Prozent für die AfD müsste deshalb ein lauter Weckruf für die "etablierte" Politik sein.
Beim Vergleich der politischen Positionen fällt auf, dass es in der Europa-, Euro- und Außenpolitik allgemein kaum nennenswerte Differenzen zwischen CDU/CSU und SPD gibt. Das ist ein nicht unwichtiges Signal über die deutschen Grenzen hinaus. Anders ist es auf den Gebieten Steuern, Finanzen, Sozialpolitik. Stichworte: Steuererhöhungen zugunsten von Infrastrukturmaßnahmen, Mindestlöhne, PKW-Maut für Ausländer, Kinderbetreuung. Freilich, wer verfolgt hat, in welch atemberaubendem Tempo gerade diese Bundeskanzlerin in den vergangenen Jahren Positionen räumte, die bis dahin als unverrückbar in der CDU/CSU galten, wäre nicht überrascht, wenn Merkel schon in den jetzt anstehenden Verhandlungen den Genossen von sich aus den Weg zur Zustimmung frei fegen würde.
Zähes Ringen?
Dennoch tut man gut daran, sich auf längere Verhandlungen und ein zähes Ringen einzustellen. Einmal, weil objektive Schwierigkeiten überwunden werden müssen. Andererseits aber auch aus dramaturgischen Gründen. Auch wer, wie Angela Merkel, nach diesem Volksvotum auf dem Gipfel der Macht angekommen ist, muss dafür sorgen, dass die Gefolgschaft bei der Stange bleibt. Das heißt, auch im kommenden Koalitionsvertrag muss eine deutliche konservative Handschrift zu erkennen sein. Umgekehrt gilt das natürlich auch für die Gegenpartei. Zumal dort, an der "Basis", die Bauchschmerzen beim Gedanken an schwarz/rot groß sind. Ein führender Genosse fasste die Befürchtungen in ein Gleichnis: "Die Merkel kommt mir mitunter vor wie eine Sonnenanbeterin, die ihre Männchen nach getaner Arbeit auffrisst. 2009 haben wir die Rolle des Männchens gespielt, jetzt hat sie die FDP weggeputzt".