Auf den Punkt bringt es der in Russland bekannte Politologe Sergei Karaganow: «Nur eine kleine Minderheit meiner Landsleute widersetzt sich heute Moskaus antiwestlichem Kurs. Vor zwanzig Jahren war es genau umgekehrt. Damals, nach dem Ende des Kalten Krieges, war es nur eine Minderheit, die sich gegen eine Annäherung an den Westen aussprach.» Wichtig wäre es, so glaubt der prominente Aussenpolitiker, wenn der Westen verstehen würde, wie es in Russland zu diesem Meinungsumschwung gekommen ist (Financial Times 14. September 2014).
Missverständnisse und Fehleinschätzungen
Verantwortlich für dieses Umdenken sind nach Karaganow Missverständnisse und Fehleinschätzungen – auf beiden Seiten. Zum Beispiel: Den vor einem Jahr ausgebrochenen Ukrainekonflikt sehe der Westen als Ringen um die nach Russland grösste ehemalige Sowjetrepublik. Für Russland hingegen gehe es um viel mehr: «In der Ukraine muss die Expansion des Westens gestoppt werden, der Territorien unter seine Kontrolle bringen will, die für die Sicherheit und das Überleben Russlands vital sind.»
Karaganow dreht den Spiess um: «Russland ist viel stärker und der Westen ist viel schwächer, als viele glauben.» Der Westen, dem Russland heute gegenüberstehe, sei nicht mehr die von Selbstvertrauen strotzende Allianz, die sich zuR Siegerin des Kalten Krieges erklärt hatte. Karaganow vergleicht das einst stolze transatlantische Bündnis mit einer «verwirrten Gänseschar», die von wirtschaftlichen Unsicherheiten geplagt sei und ihre moralischen Überzeugungen verloren habe.
Dabei hätten Amerika und seine Alliierten noch vor kurzem die Zukunft in ihren Händen gehabt, meint Karaganow. Ihr krönender Abschluss wäre die Globalisierung gewesen. Genau diese Errungenschaft werde durch Wirtschaftssanktionen zerstört, die der Westen fälschlicherweise als Instrumente der Selbstverteidigung ausgegeben habe. Ja, «die Sanktionen bekommen die gewöhnlichen Russen zu spüren...», gibt Karaganow zu. Er gibt dem Westen aber auch zu bedenken: «die Sanktionen helfen, unser Land wachzurütteln.» Der als kremlnahe geltende Karaganow hat seinen Beitrag vor dem Zerfall des Ölpreises und Rubelkurses geschrieben und gibt keine Antwort, wer in Russland schlussendlich wen «wachrütteln» könnte.
Vom potentiellen Alliierten zum Gegner
Ähnliche Überlegungen wie Karaganow macht sich aus US-amerikanischer Sicht Raymond Smith. Smith war 1988 bis 1991 in führender Position auf der US-Botschaft in Moskau stationiert und konnte das Ende des Kalten Krieges aus der Nähe beobachten: «Die Verhandlungen, die zu einem friedlichen Ende des Kalten Krieges führten, waren ein grosser diplomatischer Erfolg. Mehr als zwanzig Jahre später entdecken wir aber auch, dass dieser gleiche Erfolg kein stabiles internationales System geschaffen hat. Warum?» Der ehemalige US-Diplomat ist heute überzeugt, die US-Diplomatie habe mitgeholfen, Russland aus einem potentiellen Alliierten zu einem strategischen Gegner zu machen. (From Da to Nyet. The National Interest, 9. Dezember 2014)
Raymond Smith erklärt dem amerikanischen Publikum, warum es in Russland von einem Ja zu einem Nein zur Zusammenarbeit mit dem Westen gekommen ist.
Als Verlierer behandelt
Mit einer Neuausrichtung der Aussenpolitik hoffte Michail Gorbatschow, Reformen im Inneren auszulösen und Russland wieder seinen traditionellen Platz in der europäischen Gemeinschaft zu verschaffen. Beides misslang. Obwohl Gorbatschow gegenüber dem Westen grosse Konzessionen gemacht hatte, waren die USA nicht bereit, die Sowjetunion (später Russland) als Partner in die neue Sicherheitsarchitektur einzubeziehen. Russland wurde öffentlich zum Verlierer des Kalten Krieges erklärt und auch als Verlierer behandelt.
Die USA sahen Russland auf dem direkten Weg zu einer «Jefferson-Demokratie» und freien Marktwirtschaft. In Russland selber hatte die Implosion der Sowjetunion, die dem im Westen gefeierten Gorbatschow angelastet wurde, nicht nur die vertraute Heimat geraubt. Sie hatte die Bevölkerung in einen Kapitalismus gestürzt, der noch rücksichtsloser als der Manchester-Kapitalismus war. Eine Handvoll Oligarchen eignete sich die grössten Werte des Landes an, während das Gros des Volkes in Armut stürzte. Schon damals war abzusehen, wie sich das Land in ein autoritäres Regime verwandeln würde.
Russland nicht angehört
Smith weiter: Anstatt auf Russland zu hören, hätte der Westen den Russen ständig erklärt, was sie in «ihrem Interesse» tun sollten. Zum Beispiel in der Frage der umstrittenen Privatisierung oder der Nato-Erweiterung. Auch unverdächtig prowestliche Stimmen wie der damalige Aussenminister Andrei Kosyrew warnten vor den negativen Folgen, welche die Nato-Erweiterung für den Reformprozess in Russland haben werde. In einer so konfliktgeladenen Frage unterliess es der Westen, auch die andere Seite anzuhören. Ein fundamentaler Fehler, der sich heute rächt.
Anstatt die eigenen Prinzipien konsequent anzuwenden, hätten die USA selektiv gehandelt, je nach ihren kurzfristigen Interessen. In Kosowo hatte Selbstbestimmung Vorrang vor Serbiens Recht auf territoriale Integrität. Das Umgekehrte galt in Georgien. Hier war für den Westen territoriale Integrität wichtiger als das Recht auf Selbstbestimmung von Abchasien. In einem stabilen internationalen System wäre es wichtig gewesen, wenn sich beide Seiten über die Bedeutung dieser konfliktgeladenen Begriffe hätten einigen können. Der Westen habe es nicht einmal versucht.
Interventionen im Namen der Demokratie
Im Namen der Demokratie habe der Westen in die inneren Angelegenheiten von Libyen und Syrien interveniert. Gleichzeitig habe er den Sturz von demokratisch gewählten Regierungen unterstützt, wenn ihm deren politische Haltung nicht passte. Die Ukraine sei das jüngste Beispiel.
Smith kommt in seinem Rückblick zum Schluss, am Ende des Kalten Krieges habe sich Russland aktiv sich in das neue internationale System einzubringen gesucht. Die Russen hätten verstanden, dass ihr Land geschwächt war, sich aber nie als Verlierer betrachtet. Im Gegenteil. Die Russen selber hätten ihr Unterdrückungsregime überwunden, einer falschen Ideologie abgesagt und freiwillig das grösste Imperium der Welt auf bemerkenswert friedliche Art aufgelöst. Russland, so Smith, war überzeugt, dass es das Recht verdient hatte, als gleichberechtigter Partner behandelt zu werden und nicht als Verlierer. Die Realität sah anders aus. Der Westen warf den Russen Speiseresten zu und erwartete, sie würden die Abfälle als Filetstücke akzeptieren.
Asymmetrisches Ende des Kalten Krieges
Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die versteckte Infiltration in der Ostukraine haben den Westen aufgeschreckt. Putins «Nyet» muss im grösseren Kontext gesehen werden. Die Ukrainekrise demonstriert die Folgen des «asymmetrischen Endes des Kalten Krieges» (Richard Sakwa). Russland hat den im neuen europäischen Sicherheitssystem ihm angemessenen Platz nicht erhalten. Der Westen, insbesondere die Amerikaner, bezahlen heute aber auch den Preis für die Politik der vergangenen Jahre. Der Glaubwürdigkeitsverlust ist gross. Aus russischer Sicht hat es realsatirische Züge, wenn ausgerechnet ein amerikanischer Aussenminister Russland davor warnt, in ein anderes Land einzumarschieren.
Wo könnten sich Russland und der Westen wieder treffen? Das Konvergenzsystem aus der Zeit des Kalten Krieges ist Geschichte. Lange war für Brüssel zentral und undiskutierbar, Russland müsse politischen Werten wie Menschenrechten, Pluralismus, Medienfreiheit zustimmen, zu deren Einhaltung sich Moskau schon zur Zeit des Kalten Krieges in internationalen Verträgen verpflichtet habe.
Warum ist Putin so populär?
In mehreren Grundsatzreden hat Putin in den letzten zwei Jahren Russland als konservative orthodoxe Alternative zum «dekadenten Westen» positioniert und den Graben zwischen Ost und West in Europa vertieft. Oft wird übersehen, dass der Kremlchef noch in seiner ersten Amtszeit Russlands Zukunft in Europa gesehen und erst später auf den Meinungsumschwung in der Bevölkerung reagiert hat. Putin ist heute deshalb so populär, weil er den starken Staat repräsentiert, der Stabilität und Ordnung im Inneren garantiert und weil er als erster russischer Präsident gegenüber dem Westen eine entschiedene Haltung einnimmt.
Menschenrechte, Pressefreiheit, Gewaltentrennung oder freie Wahlen haben für die Mehrheit der Bevölkerung keine Priorität. Die im Westen stark kritisierten Gesetze gegen die Schwulen oder der erstarkende Nationalismus werden bis weit ins liberale Lager befürwortet. Putin hat nicht den Kontakt mit der Realität verloren, wie Angela Merkel behauptet hat. Der Kremlchef versteht es sehr gut, sich der vorherrschenden Meinung in Russland anzupassen.
Auch das Angebot eines Dialogs mit Washington oder europäischen Regierungen mit der Aussicht, Russland in bereits bestehende Institutionen zu integrieren, findet in Moskau kein Gehör. Für Putin wäre das ein Verlust für Russlands Souveränität, das sich mit den Westen auf gleicher Augenhöhe treffen will.
Was könnte der Westen Russland noch anbieten? Das radikalste Angebot wäre, die Nato aufzulösen und sie durch ein neues Sicherheitsbündnis zu ersetzen. Die der liberalen Partei (Rechte Sache) nahestehenden Moskauer Politologen Vladislav Inozemtsev und Anton Barabashin denken an eine «Globale Nordallianz». Sie würde alle Nato-Staaten, Russland zusammen mit der «Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit» (Armenien, Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Weissrussland) sowie Japan und Südkorea umfassen. Dieser neue Block würde unter der Leitung der USA, Russlands und der EU stehen. Ihre Aufgabe wäre, auf dem europäischen Kontinent und in der nördlichen Hemisphäre Frieden zu sichern. (Foreign Affairs, 8. August 2014)
Europa muss die Initiative ergreifen
Die meisten Beobachter sind sich einig: Europa muss die Initiative ergreifen, weil es direkt betroffen und unbelastet ist von den «messianischen und moralischen Impulsen, welche periodisch immer wieder die US-Diplomatie anstecken» (Raymond Smith). Bestärkt fühlen müsste sich Europa eigentlich auch durch jene politischen Kräfte in den USA, die aus ihrer Europa-Verachtung kein Hehl machen wie die US-Vizeaussenministerin Victoria Nuland, deren in Kiew abgehörtes Telefongespräch («Fuck the EU») für Furore sorgte.
Die Europaverachtung liegt bei Nuland möglicherweise in der Familie. Ihr Mann ist Robert Kagan, der neokonservative Vordenker der Republikaner. Kagan sieht Europa als einen gestrigen Kontinent der Schwächlinge, anders als die USA nie zu unbequemen militärischen Schritten bereit. Kagan ist auch Berater von John McCain. Der frühere republikanische Präsidentschaftskandidat behauptet, Obama habe Russlands Präsidenten durch seine Schwäche ermutigt.
McCain selber erschien im Dezember 2013 auf dem Kiewer Maidan. Sein Auftritt an der Seite eines prominenten Rechtsextremen, der für seine antisemitischen Äusserungen bekannt war, wurde in den US-Medien nicht kritisiert. In einem Gastkommentar in der «New York Times» (14. März 2014) verkündete der führende Republikaner, das russische Volk werde Putin in Moskau das gleiche Schicksal bereiten wie die Ukrainer Janukowitsch in Kiew.
Kritik an Russlandberichterstattung
Im Interesse der Ausgewogenheit publizierte die NYT als Gegenstimme aus dem Lager der Demokraten die Meinung des ehemaligen US-Botschafters in Moskau, Michael McFaul (23. März 2014). Er könne nicht sagen, wie lange das gegenwärtige autokratische Regime in Russland noch dauern werde, reagierte McFaul auf McCains Prognose. Er sei aber «überzeugt, die USA und ihre Alliierten in Russland werden den Konflikt mit dem Putinismus gewinnen und Demokratie nach Russland bringen.» – Amerikanische Russlandexperten kritisieren die einseitige Russland-Berichterstattung der «New York Times», die weiterhin als führendes Weltblatt gilt (David Fogleson: The Transformation of Post-Soviet Russia's Image in the United States).
In Europa gibt es für eine friedliche Lösung des Ukraine-Konflikts zurzeit wenig Hoffnung. Immerhin: Der von vielen vorausgesagte Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine hat nicht stattgefunden. Moskau unterstützt weiterhin die Separatisten in Donezk und Lugansk, hat aber die «Volksrepubliken» nicht anerkannt und erklärt heute öffentlich, ihre Zukunft müsse innerhalb der ukrainischen Grenzen liegen. In der Ostukraine kommt es an Brennpunkten immer wieder zu Kämpfen. Die Minsker Waffenstillstandsverhandlungen unter der Aufsicht der OSZE gehen aber weiter. Und am 15. Januar sollen sich in Kasachstan die Präsidenten der Ukraine, Russlands und Frankreichs sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel treffen.
Dialog mit Russland
Wie es konkret weitergehen könnte, zeigen die trilateralen Gespräche zwischen der EU, der Ukraine und Russland mit dem Ziel, den wirtschaftlichen Bereich des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Ukraine neu auszuhandeln. Brüssel versucht, Fehler zu korrigieren, welche die EU hätte vermeiden können, wenn ein Dialog in dieser Frage mit Russland früher, also vor dem Ausbruch der Krise, stattgefunden hätte.
Der Ukrainekonflikt zwingt Europa, seine internationalen Beziehungen neu zu überdenken und die nach dem Ende des Kalten Krieges begangenen strategischen Fehler in einer neuen Sicherheitsordnung zwischen Russland und dem Westen auszumerzen. Das ist zweifellos ein langfristiges Ziel. Aber auch Europas Einigungsprozess begann 1951 mit Kohle und Stahl (Montanunion). Und bei allen Problemen ist dieses Europa bis heute das einzige realistische Modell.