Im Zürcher Schiffbau inszeniert der schweizerisch-israelische Regisseur Jossi Wieler Sophokles’ selten gespielte Tragödie «Die Frauen von Trachis» in einer Neuübersetzung von Kurt Steinmann: ein Abend von erschreckender Aktualität.Den Helden Herakles kennt alle Welt. Was aber ist mit ihr, Deianeira, seiner Frau? Wie ist sie mit seinem Heldentum umgegangen? Wie hat sie es ertragen, dass er dauernd unterwegs war, dass er Taten beging, die die Familie ins Exil zwangen und schliesslich als Kriegsbeute ein junges Mädchen, Lole, ins Haus brachte, die sie als Nebenfrau akzeptieren sollte?
Fragen wie diesen ist Sophokles in seiner um 440 v. Chr. entstandenen Tragödie die «Frauen von Trachis» nachgegangen. Das Stück wird selten gespielt, vielleicht weil es dramaturgische Mängel aufweist, vielleicht aber auch, weil der Held nicht heldenhaft und die Frau nicht unterwürfig genug ist. Sicher ist, die Handlung ist krude, die geforderte Einheit von Zeit und Ort nicht gewahrt, und das meiste von dem, was das Geschehen auf der Bühne bestimmt, hat sich anderswo und vor langer Zeit zugetragen.
Zu sehen sind nur die Folgen davon. Den Rest müssen wir uns vorstellen. Und doch scheint gerade dieses Werk in seiner Zwiespältigkeit perfekt in unsere Zeit zu passen. Alles, was uns gegenwärtig umtreibt – Krieg und Vertreibung, Gewalt, Machtmissbrauch, Vergeltung und Schuld – ist in dieser über 2’500 Jahre alten griechischen Tragödie enthalten. Und es ist, als habe sich nichts geändert.
Durchschautes patriarchalisches Machtgehabe
In der auf diskrete, aber stets überzeugende Weise psychologisierten und ironisierten Inszenierung von Jossi Wieler ist Deianeira eine Frau, die die Männer und ihr patriarchales Machtgehabe durchschaut hat und doch weiss, dass sie deren System ausgeliefert ist. «Vor Zeiten schon kam bei den Menschen auf der Spruch, dass man von keines Menschen Leben wissen kann, bevor er starb, ob es gesegnet für ihn war, ob schlimm. Ich aber weiss bestimmt, noch ehe ich zum Hades gehe, dass meins unselig ist und schwer.»
Mit diesen Worten Deianeiras hebt das Stück an. Mit ihnen, gesprochen dann von Herakles’ Geliebter Lole, wird es enden: ein ewiger Kreislauf von Männergewalt und Frauenleid, weitergegeben von Generation zu Generation. Ein Entkommen gibt es nicht.
Auch Deianeira, in ihrer ganzen Ambivalenz grossartig gespielt von Patricia Ziólkowska, bleibt letztlich in der patriarchalen Ordnung gefangen. Statt aus der im Wortsinn toxischen Beziehung auszubrechen, greift sie zu alten Zaubermitteln, um die Liebe ihres Mannes zurückzugewinnen. Es ist das Blut des Kentauren Nessos, der einst nach einem Vergewaltigungsversuch von Herakles erschlagen worden war, mit dem sie das Festgewand für den heimkehrenden Gatten tränkt. Dass das Blut ein Gift enthält, das Herakles, als es ans Licht kommt, aufs Grausamste verätzt, statt in ihm neue Liebe zu entfachen, ahnt sie erst, als es zu spät ist.
Überragende Schauspielerpersönlichkeiten
Deianeira reiht sich ein in den Kreis jener antiken Figuren, die Böses taten, weil sie Gutes wollten. Ihr bleibt nur noch der Tod durch eigene Hand. Am Ende triumphiert das Patriarchat. Sterbend noch verfügt Herakles über das Schicksal seiner Familie, indem er Hyllos, den Sohn, dazu zwingt, Lole, seine Geliebte, zur Frau zu nehmen. Männerherrschaft zeugt sich fort, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne.
Jossi Wieler und sein Team haben aus dem alten Stoff das Stück der Stunde gemacht, und dies ohne vordergründige Aktualisierung oder gar Überschreibung. Man braucht nicht an die nach Gaza verschleppten israelischen Frauen zu denken, nicht an den russischen Terror in der Ukraine und auch nicht an die Gefolterten in den syrischen Gefängnissen, aber man kann es tun.
Man kann es mitsehen und miterleiden an diesem eindrücklichen Abend, der sich dank überragender Schauspielerpersönlichkeiten und nicht zuletzt auch dank der grossartigen Übersetzung von Kurt Steinmann ins Gedächtnis einschreiben wird. Das karge Bühnenbild von Muriel Gerstner und die schlichten Kostüme von Anja Rabes tragen das Ihre dazu bei, dass sich so erschütternde Szenen wie der Bericht des ob der Qualen des Vaters entsetzten Hyllos (Katja Bürkle) oder des sich vor Schmerzen in seinem todbringenden Kleid windenden Herakles (Sebastian Rudolph) in ihrer ganzen archaischen Wucht entfalten können.