Das Scheitern der Gespräche in Kobanê an der türkisch-syrischen Grenze zwischen türkischem Militär und Vertretern der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) über eine Befriedung der militärischen Spannungen ist ein Alarmsignal.
Die Türkei begleitete die Gespräche mit einem massiven Truppenaufmarsch in der Region. Die Drohkulisse bleibt nach dem Scheitern der Gespräche bestehen. Ein Konflikt zwischen der türkischen Armee und ihren lokalen Verbündeten auf der einen und den Einheiten der SDF auf der anderen Seite könnte das neue Freie Syrien in eine erste grosse Krise führen.
Die türkische Regierung will, so die offizielle Position, die Bildung eines kurdischen Staates an der Grenze zur Türkei im Nordosten Syriens, an dem der syrische Ableger der PKK in Form der «Volksverteidigungseinheiten» (YPG) beteiligt ist, grundsätzlich verhindern. Während die Türkei die YPG und ihre politische Organisation, die 2003 gegründete Partei der Demokratischen Union, zu terroristischen Vereinigungen erklärt hat, gelten sie im Kontext des Anti-IS-Kampfes westlicher Staaten, insbesondere der USA, als Verbündete.
Seit 2015 befindet sich die türkische Armee in einer Art Kleinkrieg vor allem mit der YPG, die innerhalb der Militärkoalition der Syrischen Demokratischen Kräfte eine wichtige Rolle spielt. Ob die YPG tatsächlich eine Bedrohung für die türkischen Grenzregionen darstellt, ist umstritten. Amerikanische Militärs äussern sich diesbezüglich eher zurückhaltend. Nach ihrer Einschätzung bestehe diese Gefahr derzeit nicht.
Schwächung der kurdisch besiedelten Nordostprovinz?
Die türkischen Offensivmassnahmen können daher entweder als Präventivmassnahme oder als Versuch verstanden werden, die territoriale Souveränität der mehrheitlich kurdisch besiedelten autonomen Nordostprovinz einzuschränken. Dabei geht es vor allem um die beiden westlichen Kantone der Provinz, Euphrat und Tabqa, und damit um die Kontrolle über das nördliche Euphrattal.
Beobachter vermuten, dass nach der Besetzung des westlichen Euphratufers und der Stadt Manbidsch durch protürkische Kräfte das türkische Militär eine Region östlich des Flusses bis hin zum 30 km entfernten Kobanê (Ain al-Arab) im Visier hat. Dabei spielt vor allem die strategisch wichtige Euphratbrücke bei Qere Qozaq, ca. 40 km südlich der Grenze, eine wichtige Rolle. Hier befindet sich die ehemalige Grabstätte des osmanisch-türkischen Nationalheiligen Süleyman Schah, dem angeblichen Grossvater des Gründers der osmanischen Dynastie Osman. Zwar war der Sarkophag im Zug des Baus des grossen Euphratdammes 1973 nach Norden verschafft worden, doch behielt das Mausuleum seine symbolische Funktion.
Im Glauben der Stärke
Offenbar glaubt Erdoğan, im Zuge des Umbruchs in Syrien eine günstige Gelegenheit für eine Militäroffensive im östlichen Euphrattal nutzen zu können. Dem Vernehmen nach hat er starke Verbände, darunter auch Panzerverbände, an der syrisch-türkischen Grenze aufmarschieren lassen. Ob es sich dabei um eine Drohgebärde oder tatsächlich um die Vorbereitung einer grösseren Invasion handelt, ist noch unklar.
Für die USA ist die Situation heikel, da sie die SDF ausgerüstet und unterstützt haben und nun dafür sorgen müssen, dass der Nato-Partner Türkei militärisch nicht auf Abwege gerät. Da Erdoğan aber vor allem die heimische nationalistische Klientel bedienen will, dürfte es auch den USA schwerfallen, mässigend auf ihn einzuwirken. Entscheidend wird sein, wie sich die neue Regierung in Damaskus zum Konflikt verhält. Die Syrische Nationalarmee, die zweite grosse militärische Formation der ehemaligen Rebellen, ist selbst in einen protürkischen und einen pro-SDF-Flügel gespalten. Wenn al-Sharaa und die neue Regierung der Türkei in den Arm fallen und argumentieren, dass die Nordostprovinz (Rojava) integraler Bestandteil des Freien Syrischen Staates ist, dass dieser dafür sorgen wird, dass die türkischen Sicherheitsinteressen gewährleistet sind und dass ein türkisch-kurdischer Krieg im Nordosten die gerade mühsam errungenen Erfolge des Umbruchs zunichtemachen und die Kosten für die Türkei in die Höhe treiben würde, könnte Erdoğan ein Einsehen haben. Die Rückkehr der in die Türkei geflüchteten Syrer würde andernfalls wohl ausbleiben. Ähnlich könnten die Europäer argumentieren.
Gretchenfrage
Einen totalen Krieg würde die Türkei aufgrund ihrer militärischen Stärke gewinnen, aber er wäre wahrscheinlich mit hohen Kosten verbunden. Eine vollständige Besetzung der Nordostprovinz kommt aber angesichts der militärischen Präsenz der USA nicht in Frage. Die Türkei könnte die beiden westlichen Kantone gewinnen, würde sich dann aber in einem permanenten Kriegszustand befinden.
Eine Gretchenfrage in diesem eskalisierenden Konflikt betrifft die Rolle der PKK. Die neue Regierung in Damaskus hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die PYD und ihre YPG-Einheiten eine strategische Allianz mit dem gestürzten Assad-Regime eingegangen sind und vom Iran unterstützt wurden bzw. werden. Solange also die syrischen PKK-Loyalisten eine führende und bestimmende Position in der 50’000 km² grossen Nordostprovinz mit ihren 4.5 Millionen Einwohnern einnehmen, würde eine türkische Offensive faktisch dazu dienen, den syrischen Umbruch auch im Nordosten durchzusetzen. Damit werden die PKK-Loyalisten zum Schlüsselproblem.
Vor einem Grosskonflikt?
Sollten sich die SDF geschlossen hinter die YPG stellen, droht eine militärische Konfrontation zwischen den Truppen der Regierung in Damaskus und denen der Nordostprovinz. Dieser könnte sich dann schnell zu einem Grosskonflikt in Syrien ausweiten, zumal es noch weitere Streitpunkte im Verhältnis zwischen der Nordostprovinz und den neuen Machthabern in Damaskus gibt. Dabei geht es vor allem um die Frage, wer die Kontrolle über die rohstoffreiche Region Deir az-Zor, insbesondere über die dortigen Gas- und Ölfelder, sowie über die Wasserrechte am Euphrat ausüben kann.