Acht arabische Staaten, plus die Türkei, die USA, die EU und die UNO nahmen am Samstag an der Aussenminister- und Expertenkonferenz über Syrien im jordanischen Aqaba teil – vom Konferenzzentrum aus konnten sie auf das israelische Eilat hinüber sehen. Aber Israel war nicht mit dabei – dazu sah Premier Netanjahu offenkundig keinen Anlass.
Vielleicht hat Netanjahus Abwesenheit damit zu tun, weil es so ist, wie der (regierungskritische) israelische Politologe Ori Goldberg sagt: «Das ist unsere neue Sicherheitsdoktrin: Wir tun jederzeit das, was wir wollen, und legen darüber keine Rechenschaft ab.»
Israel hat seit dem Zusammenbruch des Assad-Regimes im Nachbarland 480 Luftangriffe auf Ziele in Syrien geflogen. Die syrischen Flugzeuge, ja die gesamte Luftverteidigung des Landes seien zu 70 bis 80 Prozent zerstört, die übrige militärische Infrastruktur in ähnlicher Grössenordnung. Getroffen von den Bomben wurden auch Anlagen der chemischen Industrie – nach israelischen Angaben alles Gebäude, in denen Bashar al-Assad Chemiewaffen für den Krieg gegen sein eigenes Volk lagerte, nach syrischen aber auch Institutionen, in denen an Medikamenten geforscht oder Medikamente hergestellt wurden.
Syriens Streitkräfte in nichts aufgelöst
Israel konnte das tun, ohne die Gefahr einer Gegenwehr zu riskieren, denn die 169’000 Mann der syrischen Armee, der Luftwaffe, der Marine, die gesamte Streitkraft des alten Regimes, sie alle haben sich in nichts aufgelöst – und das, obgleich die Gegenseite, die Rebellenallianz von Hayat Tahrir al-Sham, nicht mehr als 15’000 Kämpfer zur Verfügung hat. Israel konnte auch, ohne Widerstand, militärische Kontingente in eine bisher (genau seit 1974) entmilitarisiertes Zone auf der syrischen Seite des von Israel 1981 annektierten Golan-Gebiets schicken und dort eine Pufferzone auf dem Territorium Syriens einrichten. Jetzt können israelische Soldaten vom 2800 Meter hohen Berg Hermon mit ihren elektronischen Anlagen direkt nach Damaskus hineinblicken und mitverfolgen, wer in der Hauptstadt Syriens was mit wem berät.
Der vorläufig starke Mann in Syrien, al-Julani (neu-alter Eigenname Ahmed al-Sharaa), protestierte gegen die faktische Machtergreifung durch Israel, legte aber parallel dazu ein Programm für die nächsten Pläne vor. Es beinhaltet, unter anderem: Wiederaufbau Syriens in Zusammenarbeit mit allen Ethnien und den Angehörigen aller Religionsgemeinschaften, also grosse Toleranz, und, was die Aussenpolitik betrifft, «keine Feindschaft gegenüber Iran» und «keine feindseligen Absichten gegen Israel».
Türkische Ansprüche in Syrien
Das liest sich gut, aber ist es auch glaubhaft? Bei der Konferenz in Aqaba konnte man erkennen: Die verschiedenen Akteure haben unterschiedliche Erwartungen. Die USA, vertreten durch Aussenminister Blinken, hoffen darauf, dass das neue Regime in Damaskus die Kontakte zu Teheran mindestens so konsequent kappt, dass Iran keine Waffen mehr via Syrien zum Hisbollah im Libanon liefern kann und dass nun die «Achse des Widerstands» zusammenbricht. Die Türkei, in Aqaba vertreten durch Aussenminister Fidan, forderte grünes Licht für eigene Ziele: keinen Widerstand gegen die militärischen Aktionen der Türkei gegen die Kurden-Organisation SDF (Syrien Democratic Forces) im Nordosten Syriens, denn bei diesen handle es sich um nichts anderes als heimliche PKK-Unterstützer und somit anti-türkische Terroristen. Im Klartext: Die Türkei fordert einen Teil des syrischen Territoriums, zumindest indirekt.
Und Israel, abwesend an der Konferenz von Aqaba, verfolgt offenkundig das Ziel eines weitgehend entmilitarisierten Syriens, das sich auch dann nicht querstellen würde, wenn die israelische Luftwaffe, einmal mehr, Ziele in Iran angreifen sollte.
Europa in der Zuschauerrolle
Europa ist in der Zuschauerrolle – zumindest so lange, als die europäischen Regierungen an den Sanktionen gegen Syrien festhalten. Sie wurden in mehreren Stufen verhängt – am konsequentesten durch die so genannten Caesar-Sanktionen, erfunden 2019 noch von US-Präsident Trump. Sie verbieten Investitionen unter anderem in den Bausektor, was konkret bedeutet, dass keine Firma, auch keine europäische oder mittelöstliche, sich am Wiederaufbau des im Krieg Zerstörten beteiligen darf.
Dilemma für die Schweiz
Auch die Schweiz befolgt diese Sanktionen. Sie richten sich eigentlich gegen das Assad-Regime – kann und will man sie nun aufheben, also HTS (Hayat Tahrir al-Sham) quasi einen «Persilschein» ausstellen? Da stellen sich neue Fragen, auf die noch niemand eine Antwort kennt.
In den USA und in Europa ist HTS als Terrororganisation aufgeführt, Washington hat sogar ein Millionen-Kopfgeld auf al-Julani ausgesetzt. Und die Schweizer Justiz, genauer das Bundesstrafgericht, hat HTS ausdrücklich als eine mit al-Qaida verwandte Organisation «gebrandmarkt». Jetzt steckt man im Dilemma: Die Sanktionen stehen einem Wiederaufbau Syriens diametral entgegen, aber ohne die Aufhebung dieser Sanktionen kann das Land nicht zur Normalität zurückfinden.